Samstag, 25. Dezember 2021

Besuch



Es ist früh morgens. Alle im Haus schlafen noch. Die vergangene Adventszeit ist so schnell vorbei gerauscht, dass Lisbeth das Gefühl hat, erst gestern das ersten Türchen geöffnet und die erste Kerzen entzündet zu haben. Wo war sie gewesen in dieser Zeit? Warum fühlte es sich immer so an, als würden diese schönen lichtvollen Tage wie im Fluge vergehen? Und außerdem legte sich der Advent in diesem Jahr nur wie eine sehr dürftige löchrige Decke auf die manchmal mühsamen Tage. Seufzend zündet sie auch die vierte Kerze am Kranz an. Die Straße vor dem Küchenfenster liegt noch im Dunkel. Der Tag ist noch nicht erwacht. Etwas vom weißen Schimmer der Straßenlaterne vermischt sich mit dem flackernden warmen Licht der vier Kerzen. Vor dem Fenster vernimmt sie im Vorbeigehen einen Schatten. Jemand winkt. Um diese Uhrzeit? Das ist unheimlich. Mit der Fingerspitze pocht eine nur schemenhaft sichtbare Person leise an die Scheibe und zeigt Richtung Haustür. Zögernd nimmt Lisbeth den Schlüssel aus dem Fach und geht zur Tür. Wer sollte das sein? Schlack. Schlack. Macht der Sicherheitsschlüssel im Schloss. Quietschend bewegt sich die Klinke nach unten. Nur einen kleinen Spalt öffnet sie die Tür. Ein Schwall eiskalter Luft strömt herein. „Hallo?“ Keine Reaktion. Aber irgendjemand steht dort vor der Tür. Sie hört den Stoff rascheln.  Mit einem tiefen Atemzug öffnet Lisbeth Tür weiter. Die dort steht, ist ziemlich dick angezogen. Das Gesicht kommt ihr sehr bekannt vor. Aber ihr fällt nicht ein woher. Sowas ist ihr immer sehr peinlich. „Guten Morgen. Sie sind aber früh dran. Was kann ich denn für Sie tun?“, frage sie. Da lächelt ihr Gegenüber. Extrem gewinnend. „Kann ich mich kurz aufwärmen? Bin noch nicht ganz angekommen und….“, sagt die Frau dort draußen und zuckt irgendwie unheimlich reizend mit den Schultern und die sympathische Falten im Gesicht erinnern Lisbeth sofort an ihre Großmutter. „Ich weiß, dass wir uns kennen“, antwortet sie in die kalte Luft hinaus, „aber mir fällt gerade nicht ein, woher…?“ Mit einer weichen Geste streicht die Frauengestalt die letzte Unsicherheit zwischen ihnen zu Seite: „Ich bin die Weihnacht.“ „Ist klar, Weihnachten steht vor der Tür, oder wie?!“ Lisbeth muss lachen. Und denkt, dass sie den Advent 2021 wohl genau so muffig, dunkel und lumpig gemalt hätte, wie diese Frau gerade auf sie wirkt. Obwohl ihr nicht klar ist, was diese Frau von ihr möchte, findet sie es plötzlich sehr unhöflich, sie draußen vor der Tür stehen zu lassen. Zumal sie ihr so bekannt vorkommt. Und waren sie beide sogar beim ‚Du‘? Sie erinnert sich einfach nicht. „Na los, kommen Sie rein.“ Lisbeth tritt zur Seite und geht unsicher voraus in die Küche. Hier im Licht erkennt sie die sehr freundlichen Züge einer älteren Dame. "Möchten Sie was Warmes trinken?“, fragt sie. „Ja, aber nichts mit Zimt!“, sagt die Frau schnell. Etwas zu schnell. Und setzt dann hinzu „Bitte nur einen warmen Kakao.“ Dabei setzt sie sich auf einen der Stühle, nimmt eine unförmige schmuddelige braune Wollmütze vom Kopf und schüttelt ihre leuchtend weißen Locken. Einen Moment denkt Lisbeth, dass sie dabei glitzernde Schneeflocken hat heraus sprinkeln sehen. Aber der Fußboden ist trocken. „Gerne.“, nickt sie und kneift ihre Augen ganz kurz fest zusammen. Und während sie den Kühlschrank öffnet, um die Milch heraus zu nehmen und nach Worten für ein Gespräch sucht, zieht die Dame ihre zerfetzte Jacke aus. Lisbeth blickt auf. Etwas sternförmiges fällt klimpernd heraus. Und verschwindet. Unter dem ziemlich lumpigen alten Mantel trägt die merkwürdige Person einen warmen grünen Pullover, der sie ein wenig wie eine dicke Wärmflasche aussehen  lässt. Lisbeth nimmt extra die blaue bedruckte Tasse vom Weihnachtsmarkt und stellt sie mit Milch in die Mikrowelle. Als sie sich abwendet und die Kaffeemaschine anschaltet, scheint sich der Besuch in ihrem Rücken weiter zu entblättern. „Was will denn 'die Weihnacht’ von mir?“, fragt Lisbeth mit einem schelmischen Unterton, der die Frau ermuntern soll, über die Schulter. Sie schnappt sich die Dose mit dem Kakaopulver und dreht sich um. Erschrocken fährt sie zusammen. Sah die Dame nicht eben noch deutlich älter aus? Sie scheint in den wenigen Sekunden um Jahre jünger geworden zu sein. Oder lag es am Licht? Ein bestechender Tannenduft liegt plötzlich in der Luft, wie von einem frisch geschlagenen Weihnachtsbaum. Genauso wie früher mit Vater im Wald. Und statt des grünen Zopfmusterpullovers trägt die Frau nun ein wallendes leuchtend rotes Kleid. Hatte sie vorher auch schon diese gold schimmernden Stiefel an? Irritiert und auf ihre Antwort gespannt, tastet Lisbeth hinter sich nach der Mikrowelle, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. „Ich freue mich schon so.“ sagt diese (nun noch jünger wirkende) Frau leicht und lächelnd und nimmt Lisbeth die warme Milch aus der Hand. Dann wickelt sie ihren dicken Schal ab, der vibrierende Geräusche macht, als würde man auf winzigen Gitarrensaiten zart eine Weihnachtsmelodie zupfen. Irgendein Parfumduft erreicht Lisbeths Nase. Der Geruch macht ihr eine Gänsehaut und öffnet in ihrem Gedächtnis Bilder der alten Stube, vom Ausziehtisch mit Kartoffelsalat und den Wiener Würstchen. Lisbeth räuspert sich und kneift sich hinter dem Rücken mit der linken Hand in den rechten Arm. „Sie freuen sich auf Weihnachten, meinen Sie?“, fragt sie, vergisst ihre Vorsicht und dreht sich nach dem Kaffee um. „Ja“, sagt die Stimme jung und warm in ihrem Rücken, „und ich wollte nur sagen, dass Du dir keine Sorgen um mich machen musst. Ich gehe sicher nicht verloren. Ich bin schon in Schützengräben und unter Autobahnbrücken gewesen, in Wüsten und Schwesternzimmern. Und meine Kraft hat sich nicht verloren. Nie.“ Lisbeth dreht sich langsam um. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen und sieht etwas ungläubig ein aufmerksames und glücklich lächelndes junges Mädchen mit kurzen Haaren vor sich sitzen. Die Kleider, die es trägt, erinnern an einen Strickwarenkatalog vom Ende der 70er Jahre und der Pony ist etwas schief geschnitten. Lisbeth schließt kurz die Augen. Vor ihrem inneren Auge sieht sich selbst mit schiefem Pony mit einem Paar weißer gefütterter Schneestiefel und wie sie diese unter dem Weihnachtsbaum innig jauchzend an sich drückt. Sie schluckt und ahnt weit hinten in ihrem Bewusstsein so etwas wie eine schimmernde Bahn der Erinnerungen, ihrer eigenen Erinnerungen und die vergangener Zeiten. Sie erwartet beinahe, wenn sie jetzt die Augen aufschlagen würde, ein Kind zu sehen in Windeln gewickelt. Vorsichtig öffnet sie die Augen. Es riecht nach Kakao. Der Herrnhuter Stern spiegelt sich im Fenster. Der Stuhl vor ihr ist leer. Sie hört die Tür ins Schloss fallen. Kleine Erdkrümel liegen unter dem Stuhl. Ein fast heiliges Gefühl überkommt sie. An diesem Morgen liegt in ihrem Herzen für einen Moment eine Gewissheit, die sie fast mit den Händen berühren kann. Einen Moment bleibt sie so sitzen. Dann steht sie auf und schneidet das Brot. Amen 


Ich steh an deiner Krippen hier, Jesus. 

Sie steht mitten in meinem Leben.

Wie Sonne und Mond, Hitze und Kälte

nicht vergehen werden.

So wird Dein Stern über mir stehen. Für immer.




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