Sonntag, 9. Oktober 2022

... nicht schweigen ....

Predigt am 9. Oktober 2022 in Halle (Saale) 






















Mut

Aus einem iranischen Lied:

„Damit es erlaubt ist, auf den Straßen zu tanzen.

Dafür, dass wir Angst haben wenn wir uns küssen.

Für meine Schwester, Deine Schwester 

unsere Schwestern,

damit wir die faulenden Gedanken ändern können.

Für die Scham die wir haben, 

für die Armut.

Für das Verlangen nach einem normalen Leben.

Für den Jungen, der im Müll wühlt für seine Träume,

für die befohlene Wirtschaft,

für die verschmutzte Luft,

 ….für das unendliche Weinen.

…für ein Gesicht, das lächelt…

für die Genies die im Gefängnis sitzen, 

für alle Fürs die noch fehlen,

für die leeren Parolen,

für die Ruhe, die wir nie fühlen dürfen,

für die Sonne nach diesen langen Nächten, 

für die Frauen, das Leben, die Freiheit,

für die Freiheit  für die Freiheit für die Freiheit…“ 

(Ausschnitte aus dem Song)


… singt der iranische Künstler Shervin Hajipour in seinem Song „Baraye“ 

in einem Video vor wenigen Wochen. 

Er singt es aus Solidarität für die iranischen Frauen 

und für alle, die sich für die Freiheit und Akzeptanz einsetzen. 

Nach nur 48 Stunden ist dieses Video schon 40 Mill. Mal angesehen, 

tausendfach geteilt und dann gelöscht und Shervin verhaftet. 

Für die Freiheit. 

Sein Song geht gerade um die Welt.

Seine ernsthafte klagende eindringliche persische 

Stimme zur orientalischen Musik.

Zehntausende Menschen kommentieren dieses Video

und das unbekannte Schicksal des mutigen  

25jährigen Sängers, der mittlerweile vermisst ist.


Und an diesem Dienstag schnitt sich die schwedische Abgeordnete 

Abir Al Sahlani bei ihrer Rede im Europäischen Parlament ihre Haare ab. 

Aus Solidarität mit den Menschen in ihrer ersten Heimat, 

für die, die dort seit dem Tod von Mahsa Amini protestieren. 

Was sie wollen sind „nur“ grundlegende Menschenrechte. 



Weit weg


Der Iran ist weit weg.

Die Bilder sind weit weg

solange du nicht selbst betroffen bist

und es nur um die andern geht.

Alles bleibt unbegreifbar und schlimm, 

aber dich persönlich nicht betreffend, 

bis du selber darin verwickelt bist.


Heute vor drei Jahren um kurz nach 12.00 Uhr 

wurden die Menschen hier in Halle verwickelt. 

In einen Anschlag. 

Es war nicht weit weg.

Die Bilder waren ganz nah.

Wie nahe wirklich?


Möglicherweise traf es doch wieder die andern?


„…für die Ruhe, die wir nie fühlen dürfen..“ 

singt Shervin aus dem Iran in seinem Lied.

„…für die Ruhe, die wir nie fühlen dürfen..“ 


Und sehr viele Menschen auf der Welt verstehen dieses Gefühl. 

Für jüdische Menschen in Deutschland ist es nach ihrem Erzählen 

ein dauerhaftes Gefühl. 

„… die Ruhe, die wir nie fühlen dürfen..“ 



Schweigen reicht nicht


„Die Gewalt, die wir erfahren haben, lastet schwer auf unseren Herzen.“ 

- war eine der Aussagen nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle 

und die anderen Orte. 

Dabei ist dieser Anschlag nur die grausame Spitze des Eisberges. 

Der ganze Eisberg selber ist ein Alltag voller diskriminierender Einzelheiten, 

die du und ich, wenn wir nicht betroffen sind von Diskriminierung 

- aus welchem Grund auch immer - nicht kennen.

Wir fühlen diese Diskriminierung nicht, weil sie uns nicht widerfährt. 

Wir haben keine Vorstellung. 

Antisemitismus ist ein Problem für jüdische Menschen 

- nicht für uns andere. Oder eben doch?  

Ist es doch auch unser Problem? 

Ist es nicht vielleicht eine Aussage darüber, 

wie wir unter uns als Menschen, die hier zusammen leben, 

über Gleichwertigkeit denken? Wie wir das leben? 

Wie wir diese Werte verteidigen oder eben nicht?

Reicht das was wir tun? 


Reinhard Schramm von der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen 

sagte letzte Woche im Erfurter Dom: 

„vor Antisemitismus können sich Juden nicht selbst schützen.“


Also reicht es wohl nicht, was wir tun. 

Reicht es nicht theoretisch dagegen zu sein. 

Reicht es nicht, selber nichts Antisemitisches zu tun? 

Reicht es nicht, nur über Antisemitismus reden. 

Daraus ist oft nur ein Aha Effekt in der Dauerschleife. 

Aha. Haben wir wieder drüber geredet. 


Was schwer wiegt ist das Schweigen-  … sagt Juna Grossmann in ihrem Buch 

„Schonzeit vorbei. Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus.“ (S. 94)


„Unerträglich laut ist dieses Schweigen, 

wenn man einfach seinen Kaffee weitertrinkt, 

während ein Mann auf offener Straße mit einem Gürtel geprügelt wird. 

Es ist das eilige Weitergehen, wenn eine Frau bespuckt wird, 

weil sie ihr Tallitbeutelchen sichtbar trägt. 

Das Schweigen, von dem die Überlebenden erzählen, 

das Schweigen, das oft viel schlimmer war als die Diskriminierungen, 

die Verhöre, die Zwangsarbeit. 

Das Vorbeigehen der Menschen, die eben noch Freunde waren, 

die ehemaligen Kollegen, die nicht mehr grüßten.“


Ich will nicht, dass es Menschen gibt, die nie zur Ruhe kommen. 

Die das Schweigen der anderen ertragen müssen. 

Wir dürfen wir uns nicht damit abfinden, 

dass jüdische Menschen nur noch mit Polizeibewachung 

Jom Kippur feiern können. 

Dass jüdische Menschen nach einer angezeigten Diskriminierungserfahrungen 

zu hören bekommen „Ja, was gehen sie überhaupt raus?“  

und „Naja, es gibt immer einen der provoziert hat…“



Einschärfen und auf der Haut tragen


Schweigen ist keine Option. 

Sagt auch die Bibel und mutet uns wie immer viel zu.


Ich lese aus dem 5. Buch Mose, Buch der Weisung, 

das jüdische Glaubensbekenntnis, 

es ist Herzstück jüdischen Glaubens 

und es ist ein Herzstück unseres Glaubens. 

Gemeinsam lesen und glauben wir diese Texte, 

wie wir gemeinsam die gleichen Psalmen beten:


„1 Dies sind die Gesetze und Gebote und Rechte, die der HERR, euer Gott, 

geboten hat, euch zu lehren, dass ihr sie tun sollt in dem Lande, 

in das ihr zieht, es einzunehmen, 2 damit du dein Leben lang den HERRN, 

deinen Gott, fürchtest und alle seine Rechte und Gebote hältst, die ich dir gebiete, 

du und deine Kinder und deine Kindeskinder, auf dass du lange lebest. 

3 Israel, du sollst es hören und festhalten, dass du es tust, auf dass dir’s wohlgehe 

und du groß an Zahl werdest, wie der HERR, der Gott deiner Eltern, dir zugesagt hat, 

in dem Lande, darin Milch und Honig fließt. 

4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer. 

5 Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, 

von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. 

6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 

7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, 

wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, 

wenn du dich niederlegst oder aufstehst. 

8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, 

und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 

9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

20 Und wenn dich nun dein Kind morgen fragen wird….“ ????

(5. Mose 6, 1-9.20)


Du sollst, sagt die Bibel, Gottes Worte der Liebe nicht zu Hause lassen 

oder hinter Kirchenmauern, sondern mit dir tragen, 

als würdest du sie dir sichtbar um den Arm wickeln wie ein Band, 

das Dich vor dem Vergessen bewahren soll, 

ja als ständen sie dir auf die Stirn geschrieben. 

Sodass Du immer vor Augen haben würdest: geliebt zu sein 

und dass darum die Liebe auch dein Merkmal sein soll. 

Euer Merkmal untereinander.

Eine Liebe, die die anderen nicht zu „Den anderen“ macht, 

von denen Du Dich abgrenzen magst. 

Eine Liebe, die Du leben und vor allem weitergeben sollst 

an Deine Kinder und Kindeskinder. 

Sie soll sichtbar sein.

 

„5 Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben 

von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. 

6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 

7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden

wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, 

wenn du dich niederlegst oder aufstehst.“



hilflos auf die andern sehen


Wenn ich ehrlich bin, weiß ich manchmal gar nicht mehr, 

was ich noch machen kann. 

Ich weiß, dass ich jegliche Form von Diskriminierung nicht möchte. 

Ich weiß, dass sie der Bibel nach grundsätzlich falsch ist, gegen Gottes Willen. 

Dass ich seine Liebe reflektieren soll in die Welt hinein, 

egal - was einer glaubt, woher eine kommt, 

wen einer liebt oder welches Geschlecht eine hat. 

Ich spüre ganz oft Empörung und Wut. 

Aber was, wenn alle moralischen Argumente genannt sind, 

alle politischen Ideen ausgesprochen, 

Mahnwachen und Demonstrationen besucht 

und ich am Ende da sitze mit meinen Sorgen um diese Welt, 

die nicht voran kommt bei diesem Thema? 



Ich seh hilflos auf all die anderen, die es nicht begreifen, 

auf Behörden und Einrichtungen, die immer wieder gleiche Fehler machen, 

auf die, die sich nicht bewegen lassen, die nicht einsehen, 

die einfach weiter machen, 

auf die, denen schlimmes Unrecht geschieht, 

deren Leben davon zu einem ohne Ruhe wird.



mutiger, treuer, fröhlicher, brennender 


„Wir klagen uns an, 

daß wir nicht mutiger bekannt, 

nicht treuer gebetet, 

nicht fröhlicher geglaubt 

und nicht brennender geliebt haben. 

(…) 

So bitten wir in einer Stunde, 

in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: 

Veni, creator spiritus!“ - Komm Heiliger Geist!


Das haben die Kirchen gesagt. Damals. 1945. 


„Komm Heiliger Geist!“ endet es. 

Und er ist da!

Der Heilige Geist. 

Er ist doch da! 

Oder? 

Er hat uns, 

mich und Dich 

doch nicht verfehlt!? 


Ich könnte mutiger bekennen - ganz alltäglich.

Ernst nehmen wo jemand diskriminiert wird, 

ihm oder ihr helfen, es sichtbar zu machen. 

Mich laut und deutlich solidarisieren mit Menschen, 

die Opfer geworden sind. Sich neben sie stellen.  

Meine Solidarität zeigen.

Deutlich. Sichtbar.


Ich könnte vielleicht treuer beten 

und mir die Worte wieder und wieder um mein Herz legen lassen. 


Ich könnte wirklich brennender lieben, 

das heißt zuhören und annehmen. 

Nicht die Unterschiede suchen, sondern die Gemeinsamkeiten. 

Liebe heißt handeln und widersprechen. 

Sich verbinden. Sie berühren lassen.


Ich könnte doch fröhlicher glauben, 

dass mit Gottes Hilfe  Gemeinschaft möglich ist, 

auch wenn alles dagegen zu sprechen scheint. 

Das hieße: nicht für mich alleine zu glauben, 

sondern davon sprechen:

 zu denen neben mir und in meiner Familie 

und dort wo ich lebe. 

Und ich denke an Shervin, den iranischen Sänger mit seinem Mut.


Ich könnte wie die kanaanäische Frau, 

die Jesus hilflos anspricht, mich bekehren lassen 

von der Kraft Jesu, der mir sagt: „Dein Glaube kann Dir helfen!“ 

Dein Glaube kann helfen. 

Bei allem was andere falsch machen 

- Du kannst es anders machen. 

In Deinem Glauben liegt unendliche Kraft dafür.


Ich könnte meine eigenen engen Grenzen zur Disposition stellen. 

Unerschrocken, 

denn Gottes Wort und Segen liegen wie ein Band 

um meinem Arm und wie Zeichen auf meiner Stirn. 


Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer.

Herr, erbarme dich. Amen.







Meine engen Grenzen
1. Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich.                           
Wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich

2. Meine ganze Ohnmacht, was mich beugt und lähmt bringe ich vor dich. 
Wandle sie in Stärke, Herr, erbarme dich

3. Mein verlornes Zutraun, meine Ängstlichkeit bringe ich vor dich. 
Wandle sie in Wärme, Herr, erbarme dich

4. Meine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit bringe ich vor dich. 
Wandle sie in Heimat, Herr, erbarme dich...

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