Donnerstag, 20. Dezember 2018

Was bleibt


Als ich Irene eine Woche zuvor auf der Palliativstation besucht hatte, da konnten wir uns noch unterhalten. Sie sprach aus, was sie niemandem sagen konnte. Dass sie gehen möchte. Dass sie erfüllt sei und satt. Dass Gott sie holen könne. Dass sie auf das Weitere lieber verzichten würde. Das „Weitere“. Der Krebs. Sie war matt und müde. Als ich sie heute sehe, da ist sie wacher und wirkt kräftiger. Dennoch ist sie mit ihrem Kopf irgendwo anders. Sehr abwesend. Sie antwortete auf Fragen, die ich nicht gestellt habe. Sie beginnt Sätze, die kein Ende haben. Was sie sagt, hat keinen sichtbaren Zusammenhang. Offensichtlich hat ihr fast 90jähriger Körper ihren Geist auf Sparflamme gesetzt. Die Kraft braucht er woanders. Dann erinnere ich sie, dass es gerade Advent ist. Ach ja. Advent. Sagt sie. Meine beiden Schwestern, Irmtraud und Ingrid, und ich. Wir haben viel gesungen. Die Mutter, die war nie zu Hause. Sie musste für uns sorgen und war nur unterwegs. Wir waren immer alleine. Und dann saßen wir drei auf dem Sofa und sangen, so lange uns Lieder einfielen. In meinem Geist sehe ich die drei Mädchen mit Röcken und langen Strümpfen, mit Zöpfen links und rechts auf einem roten Samtsofa sitzen. Der Raum ist klein. Spielzeug gibt es keines. Sie mussten selber den alten Ofen anheizen, sparsam sein mit dem Holz. Die Mutter ist noch nicht heim gekommen mit dem Essen. Sie haben die alte Wolldecke über sich gelegt und singen Lieder gegen ihre Angst. Gegen den Hunger. Gegen die Langeweile. Gegen die Traurigkeit und gegen die Sehnsucht. Leise stimme ich an: Alle Jahre wieder…. Irene schaut mir in die Augen und aus ihrem Mund kommt - ohne eine Sekunde zu überlegen - in einem warmen tiefen Alt die zweite Stimme dazu. So singen wir zweistimmig im Zimmer auf der Palliativstation: Leise rieselt der Schnee. Ihr Kinderlein kommet. Oh, du Fröhliche. Als wir aufhören, hat Irene rote Wangen. Ihre Augen leuchten. Ob sie den rauen Stoff vom alten Sofa spürt und den Druck der Wolldecke auf den Armen, die Schultern der Schwestern? Ob sie Tannennadeln riecht und Vanille und Zimt? Heute habe ich das Licht des Lebens gehört. Es war in der Stimme von Irene.


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