Sonntag, 7. Januar 2018

Freudiger Verdacht - oder: Drei sehen den Stern

In der Nacht hatte irgendjemand in die Briefkästen kleine Sterne gesteckt. Es waren rührende Sterne. Filigran. Zart. Federleicht. Das Licht schien durch sie hindurch. Erika Momberg fand ihren als Erste. Als Hausmeisterin musste sie schon um fünf aufstehen und den Gehweg fegen. Schließlich wollte sie sich nichts nachsagen lassen. Befriedigt schaute sie nochmal zurück. Blitzeblank! Erika nahm den Briefkastenschlüssel. Nun war es Zeit für eine Tasse Malzkaffee und die Zeitung. Und da fand sie ihn. Den Stern. Er lag ganz unten unter der Zeitung. Ein wenig sah er aus wie ein kleines blassrotes Herbstblatt, das sich nach oben bog. Misstrauisch nahm sie ihn zwischen die Finger. Sie schaute sich nach links und rechts um. Fast heimlich steckte sie ihn in die rechte Tasche der Kittelschürze. Die Hand ließ sie schützend darum. Umständlich schloss sie den Briefkasten mit der freien Hand zu und dann die Haustür im Parterre auf. Vorsichtig schlüpfte sie von ihren ausgetretenen Schlappschuhen, die auch aussahen, wie hochgebogene Herbstblätter, in die schwarzen Katzenhausschuhe. Dann stand sie am Küchenfenster. Das ging in den Hof. Zaghaft glättete sie den knisternden Stern und hielt ihn an die Scheibe. Ihre Hand sank wieder hinunter. Auf der Stirn kräuselte sich eine Falte. Die Augen musterten jedes einzelne Fenster des alten Mietshauses. Rätselhaft. Nach einigem Kramen fand sie im Küchenschrank die Rolle mit dem Klebeband und klebte ihn mitten auf die Scheibe. Er war das einzig Neue in der Wohnung mit den jahrzehntealten Dingen die sie nie veränderte. Dann saß sie genau gegenüber. Schaute von ihrem Kaffee auf den Stern. Die Zeitung lag unberührt. Es war der Zeitpunkt, als die Stadt erwachte. Sie liebte diesen Zeitpunkt. Wenn nach und nach die Geräusche wieder kamen und das Licht. Bis alles ein beruhigendes Rauschen war. Sie hörte ein Tappen über sich, das Quietschen der Straßenbahn von der Ecke Morgenstraße, eine knarrende Gartentür, ein Hund bellte. Die hellen tippenden Schritte auf der Treppe waren die von Herrn Springer. Niemals nach 6.10 Uhr. Tackig klacken seine braunen Originaldesignerschuhe. Schritte zum Briefkasten. Das Klappern der Schlüssel. Er wird die dicke Financial-irgendwas-Zeitung heraus nehmen. Er ist der einzige Mensch auf der Welt, den sie kennt, der so etwas liest. Sie hat sich schonmal eine aus der Papiertonne gefischt und kein Wort darin verstanden. Schnösel. Denkt sie. Dann lauscht sie überrascht. Langsam gehen die Schritte wieder die Treppe hinauf. 

Es ist 6:11 Uhr. Herr Springer setzt sich auf die Kante seines Ledersofas. Sein Herz klopft. Er weiß nicht, ob er diese Überraschung positiv oder negativ deuten soll. Er liebt keine Überraschungen. Doch der hauchdünne Stern ist eindeutig kein Ärgernis. Wertlos. Und doch nicht. Das Muster ist kunstvoll. Nervös zwinkern seine Augen hinter der Brille und sein Blick fällt auf seine Uhr und zurück zu dem zarten Stern. Ratlos zieht er die Augenbrauen hoch. Er kennt sich gar nicht wieder. Kopfschüttelnd legt er das kleine Gebilde auf den noblen Glastisch. Doch als er sich erhebt, greift er danach und lehnt es vorsichtig in die rechte untere Fensterecke des hinteren Fensters. Das geht in den Hof. Das kleine gelbe Sternchen ist das einzig Farbige in seiner Wohnung. Wieder tappen seine Schuhe die Treppe hinab. Im Vorbeigehen mustert er irritiert die Namen auf den Briefkästen. Sie hatten bisher keine Rolle in seinem Leben gespielt. Hastig eilt er weiter. Er wird heute den nächsten Bus nehmen müssen. Die Haustür schnappt ihm entgegen, direkt auf die Knöchel der linken Hand. Henke steht vor ihm. Entschuldigend murmelt er etwas, während Herr Springer die schmerzhafte Hand reibt. Sie nicken nur und brummen nach Männerart. Es ist nicht mehr als ein „tn´Morjn…“. 

Henke kneift überrascht die Augen zusammen. Sieben Jahre hat er versucht, den Springer mal lebendig zu sehen. Er dachte schon an einen Mythos, so selten bekam man den Herrn aus der ersten Etage zu Gesicht. Bronkos Hecheln erinnert ihn daran, dass der Hund jetzt saufen muss. Is guuut.., brummt er. Beruhigend spricht er auf ihn ein. So wie er den ganzen Tag mit ihm redet. Sonst ist ja keiner da. Erleichtert zieht er seine Modellbauzeitung aus dem Briefkasten. Schon wieder zwei Tage zu spät. Er wird sich beschweren. Als er die Tür schließen will, flattert etwas herunter, das wohl noch im Schlitz gesteckt hatte. Weiß ist es und segelt lautlos auf den Boden. Natürlich muss Bronko gleich drauf tapsen. Mit seiner schlammigen Pfote stellt er sich auf den kleinen blassen Stern. Hey!, knurrt Henke und schiebt den dicken Dackel zur Seite.  Mit spitzen Fingern klaubt er das Sternchen vom Boden. Dreht ihn verwundert hin und her. Dann legt er ihn behutsam zwischen die Seiten seines Kataloges und der kleine Hund zerrt ihn die Treppen hoch. Zweite Etage. Er schnauft, als er ankommt. Bronko schlappert laut an der Wasserschüssel. Henke lässt sich in den alten zerfetzten Ohrensessel fallen und setzt die Brille auf. Sogar selbst gebastelt, stellt er fest. In einer Ecke des filigran geschnittenen Sternchens hängt noch ein kleines Papierdreieck, das nicht abgefallen ist. Vorsichtig zupft er es ab. Fast mittig schimmert Bronkos Tatze. Wer zum Kuckuck!, ruft er laut. Junge! Schau dir das an! Ein seltenes Leuchten erscheint in seinen Augenwinkeln. Schnaufend erhebt er sich und schlurft zwischen mannshohen vergilbten Zeitungsstapeln zum Fenster. Dort, in einer Schublade des über und über beladenen Schrankes wühlt er lange und planlos, bis ihm eine kleine Stecknadel in die Hände fällt. Mit etwas zitternden Fingern heftet er den Stern an die vom Zigarettendunst verfärbte Gardine. Erstaunt bemerkt er die Birke im Hof, die bereits fast bis an sein Fenster reicht. Hat er so lange nicht mehr an diesem Fenster gestanden? Verlegen eilt sein Blick zu den Fenstern links und rechts. Sollte jemand aus dem Haus ihm den kleinen Stern…? Das Herz fängt an zu klopfen. Überrascht stellt er fest, dass er irgendwie aufgeregt ist wegen dieser Sache. Ach! So ein Unfug!, ruft er Bronko zu, lacht etwas zu laut und lässt sich in seinem Ohrensessel nieder. 

Als es Abend wird, leuchtet am klaren Himmel ein Stern besonders hell. Er spiegelt sich in den Fenstern der Königsgasse 12. In den drei Fenstern zum Hof leuchten schüchtern drei Sterne. Hinter ihnen liegen drei Menschen seltsam berührt in ihren Betten. Es ist ein neues Gefühl in ihnen. Unbekannt. Nicht unangenehm. Irgendwo da draußen hat heute jemand unerwartet an sie gedacht. Und tief innen haben sie einen freundlichen Verdacht.


- Stille -



Ein Stern
der uns zu einer bestimmten Zeit des Jahres
geschenkt wird
ist nicht irgendein Stern
Es ist DER Stern

Vielleicht wird Frau Erika Momberg sich morgen eine neue knallrote Tischdecke kaufen mit Rosenmuster. 
Und vielleicht kichert sie deswegen jetzt schon in ihrem Bett. 
Und vielleicht wird Herr Springer morgen zum ersten mal das Leuchten in den Augen der Frau am Nachbarschreibtisch sehen und sie einen winzigen Augenblick anlächeln.
Und vielleicht wird Henke morgen früh seine Schwester anrufen, seit Jahren mal wieder, und dann wieder mit den Augenwinkeln leuchten.

Ein Kraft 
die wir erfahren
zu einer bestimmten Zeit in unserem Leben
ist nicht irgendeine Kraft
Es ist DIE Kraft.

Gott sagt:
Ich will dem Durstigen geben
von der Quelle
des Lebendigen Wassers
umsonst.




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