Freitag, 10. November 2017

Er sitzt vor dem kleinen Zettel, heraus gerissen aus einem Kalender. Bisher hat er sich stark gehalten. Auch als er sie leblos gefunden hat am Morgen und plötzlich diese tiefe Einsamkeit gespürt hat, die nun in den alten Zimmern hing. Die heißen Tränen hat er herunter geschluckt. Der graue mächtige Bart zittert ein wenig, als er nun die Wort in altdeutscher Schrift liest: "Lieber Werner. Wenn ich gestorben bin, nimm die gute Unterwäsche. Sie liegt auf der Hutschachtel. Ich möchte das braune Kostüm tragen. Es hängt im Schrank hinten auf einem Bügel. Deine Mutti.“ Die Hände bedecken sein Augen. Ein Schluchzen schüttelt seinen Körper. Da sitzt der große kleine Junge. Das einzige Kind der über 90Jährigen. Alt geworden. Schwer und krank geworden. Einsam. Und nun: noch einsamer. Sein Blick fällt auf die zwei großen vergilbten A4-Blätter neben seinem Arm. Der Lebenslauf der Mutter. Sorgsam aufgeschrieben, scheinbar schon vor Jahren. Ganz unten, da liest er: „Bitte lest zu meiner Trauerfeier den Psalm 23 und meinen Konfirmationsspruch. Die beiden haben mich durch das Leben getragen: „ Die Freude am Herrn ist meine Stärke!“ Er schnaubt laut ins Taschentuch. Und ist ein kleines bisschen weniger einsam. Und dann, drei Tage später, sitzt er in der Kirche. Und staunt. Zunächst saß er ganz alleine auf der Bank ganz vorne. Und dann, nach und nach, kommen die Leute des kleinen Dorfes. Aus jedem Haus einer. Und dann kommen Cousins und Cousinen aus nah und fern, Kinder der 7 Geschwister seiner Mutter. Links und rechts und hinter seinem Rücken sitzen sie. Er spürt sie ganz warm. Und wieder fühlt er sich ein kleines bisschen weniger einsam. Danach sitzen sie bei einer Tasse Kaffee zusammen. Die kleine Wirtsstube bricht aus allen Nähten. Aus dem eisigen nasskalten Wind sind sie herein gekommen ihn die warme Stube mit dem alten Ofen. Sie erzählen von früher. Man sieht sich viel zu selten. Er denkt an nachher, wenn er alleine in sein kleines kaltes Häuschen zurück muss. „Und dann“, sagt die Pfarrerin, „in den nächsten Wochen, rufen Sie ihn doch einfach alle nacheinander an! Wenn Sie doch so viele Cousins und Cousinen sind. Dann fühlt sich Werner vielleicht nicht so scheußlich alleine.“ Werner schluckt. Alle sehen von ihren Kaffeetassen hoch und lächeln. Niemand reagiert auf diese Worte. Die Gespräche gehen einfach weiter. Doch später beim Abschied, da sagt eine Cousine. „Weißt du was, Werner? Wir machen das, wie die Frau Pfarrer gesagt hat. Ich rufe dich nächste Woche an.“ Es wird still im Raum. „Ja“, sagt eine andere, „das ist gut. Ich rufe dich in der Woche danach an.“ „Und in drei Wochen“, ruft noch eine, „ da kommst du zu mir und wir essen zusammen Streuselkuchen!“ Und Werner nickt. Jetzt fühlt er sich wieder ein bisschen weniger einsam.  (10.11.2017)


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