Samstag, 5. September 2020

Andreas hängt die Gardinen auf

Erzählungen aus den ersten Christengemeinden:

"Die Gemeinde wuchs und die Zahl der Jünger und Jüngerinnen wurde immer größer. Da kam es – um eben diese Zeit – zu einem Streit zwischen den Griechisch sprechenden Juden in der Gemeinde und denen mit hebräischer Muttersprache. Die griechische Gruppe beschwerte sich darüber, dass ihre Witwen bei der täglichen Verteilung von Lebensmitteln benachteiligt würden. Da riefen die Zwölf die ganze Gemeinde zusammen und sagten: »Es geht nicht an, dass wir die Verkündigung der Botschaft Gottes vernachlässigen und uns um die Verteilung der Lebensmittel kümmern. Darum, liebe Brüder und Schwestern, wählt aus eurer Mitte sieben Männer aus, die einen guten Ruf haben und vom Geist Gottes und von Weisheit erfüllt sind. Ihnen wollen wir diese Aufgabe übertragen. Wir selbst werden uns auch weiterhin mit ganzer Kraft dem Gebet und der Verkündigung der Botschaft Gottes widmen.«  Alle waren mit dem Vorschlag einverstanden. Sie wählten Stephanus, einen Mann voll lebendigen Glaubens und erfüllt vom Heiligen Geist; außerdem Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus, einen Nichtjuden aus der Stadt Antiochia, der zum Judentum übergetreten war. Diese sieben brachten sie zu den Aposteln. Die beteten für sie und legten ihnen die Hände auf. Die Botschaft Gottes aber breitete sich weiter aus. Die Zahl der Glaubenden in Jerusalem stieg von Tag zu Tag. Auch viele Priester folgten dem Aufruf zum Glauben." (Apostelgeschichte, Kap. 6)



Predigt von Andreas, der Gardinen aufhängt  


Es war an einem Montagmorgen.

Monika kam gerade rechtzeitig zu Ines.

Es war vor um 6.00 Uhr. Ines musste zur Arbeit.

Sie küsste ihre drei Kinder und schloss die Tür, 

die Kinder sprangen jubelnd an Monika hoch. 

Sie würden erstmal in Ruhe Frühstück essen, 

bevor sie all ein den Kindergarten und in die Schule brachte.

Wie gut, dass Monika da war.

Nebenan bei Herta und Wolf war es noch ruhig.

Das heißt, abgesehen von dem kleinen wischenden Geräusch, 

das der Beutel mit frischen Brötchen an der Tür machte, 

den Margitta gerade angehängt hatte auf ihrer Brötchentour.


Wenn Herta und Wolf nachher in Ruhe gefrühstückt hätten, 

würden sie Wolfgang anrufen, der am Dorfrand wohnte 

in einem unsanierten alten Häuschen. 

„Für mich reicht es doch noch!“, sagte er immer. 

Aber er war einsam. Jetzt nicht mehr so, seit Herta und Wolf 

ihn nach dem Frühstück anrufen und sie gemeinsam 

über das Telefon das Tagesrätsel aus der Zeitung lösten.


Vor dem Haus fuhr der grüne Kombi vom Friedel vorbei. 

Sie war zwar auch schon so alt wie Herta und Wolf, 

aber fit wie ein Turnschuh, sagte sie immer. 

Die ehemalige Busfahrerin liebte es, auf die Tube zu drücken. 

Aber jetzt, wenn sie vormittags ältere Leute aus dem Dorf 

mit dem Bus der Kirchengemeinde zum Arzt fuhr, 

dann fuhr sie etwas langsamer. Sie hatte jeden Tag 

mindestens eine Tour. Der Ärzte waren alle in der Stadt. 


Zu diesem Zeitpunkt öffnete Manuela die Tür zum Gemeindeladen. 

Das Wort „Laden“ drückt gar nicht aus, was dort alles geschah, 

neben Butter und Milch gab es auch eine Tasse Kaffe, 

gute Ratschläge, Pakete zu frankieren, jemanden fest 

in den Arm zu nehmen, oder sogar mal den Hosenknopf 

von Wolfgang anzunähen, weil der nicht mehr gut sehen konnte.  


Später würden im Hinterzimmer die Leute von dem Wohnblock vorne 

eine Suppe bei ihr bekommen. Aus dem Gemüse, das nicht mehr 

für den Verkauf gut war, kochte sie für alle, deren Portemonnaie 

schon in der Mitte des Monats leer war.


Andreas schaute auf einen Kaffee herein. Der Kirchenhandwerker. 

Für eine kleine Spende schloss er den neuen Wasserhahn von 

Hanna und Ernst an und hängte die Gardinen von Wolfgang auf, 

die Ines, seine Nachbarin für ihn mitgewaschen hatte. 


Manchmal mussten sie alle im Dorf über den Mann von neulich lachen, 

der auf der Durchreise war und bei einer Tasse Kaffee im Laden 

gefragt hatte, ob denn alle im Dorf miteinander verwandt waren.


Nein, das waren sie nicht.

Monika, Margitta, Herta und Wolf, Wölfgang, Frieda, Manuela und Andreas

waren nicht verwandt. Eines Tages hatten sie genug davon, 

nur in der Kirche von Nächstenliebe zu reden. 

Sie hatten genug davon, dass es in ihrem reichen Land 

arme oder einsame oder traurige Menschen gab, 

die so viel weniger zum Leben hatten als andere. 

Sie hatten bemerkt, dass jede und jeder von ihnen 

noch Zeit und Kraft und Liebe übrig hatte. 

Am Anfang hatten sie Angst, 

dass ihnen das alles zu viel werden könnte, 

aber es war etwas geschehen, das sie nicht erwartet hatten: 

es machte Spaß, eine Gemeinschaft wuchs, 

die sie so noch nie hatten, sie fühlten sich der Bibel näher als je zuvor. 

Sie hatten einfach aufgehört zu reden und hatten gemacht. 

Das war die einfache Lösung gewesen. Wer hätte das gedacht.


Das war eine ausgedachte Geschichte. Eine Art Wunschgeschichte. 

Die Apostelgeschichte erzählt, wie die ersten christlichen Gemeinden

immer größer wurden. Wie sie den Überblick über all die vielen

Schwestern und Brüder verloren. Wie welche aus dem Blick gerieten,

übersehen wurden. Und wie sie eine Lösung fanden. 

Sie erzählt, dass sie nicht anfingen Grundsatzdebatten zu führen, 

wer was verdient hätte und wer eigentlich was hätte tun sollen, 

wer sonst noch zuständig sei für diese Witwen 

- sie machten eine pragmatische Lösung.


Nach einer Studie fühlt sich 1/3 unserer Gesellschaft als unsichtbar. 

Sie fühlen sich nicht gesehen. Übersehen. 

Sie kommen auch ihrem Gefühl nicht vor. 

Und das sind Menschen aus alle Gesellschaftsschichten. 

Wie kann das sein? Ungesehene Menschen direkt neben uns? 

Übersehen werden tut weh! Sich offenbaren, wo der Schuh drückt, 

wo man sich zurück gelassen fühlt, entblößt. 

Wem kann man das schon direkt sagen: 

„Du ich fühle mich nicht gesehen?“ 

Jeder Dritte fühlt es aber so. Das sind viele.


Der Samaritaner hat etwas gekonnt: sehen was dran ist. 

Sich zuständig fühlen wo einer etwas braucht. 

Sich zuständig fühlen! Sich angesprochen fühlen! Handeln! 

Nicht rumquatschen. Handeln. 

In den Arm nehmen, besuchen, zuhören, eine Suppe kochen, 

die Gardinen aufhängen, die Kinder mal eine Stunde nehmen, 

zum Arzt fahren, den Knopf annähen, ein Schiff schicken. 

Handeln. An meinen Nächsten. Menschen in meiner Nähe. 

Direkt neben mir.


„Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“, sagt Jesus. 

Das sind nicht die andern, sondern Du! Wir! 

Wir machen das Reich Gottes!  Jetzt hier! Oder eben nicht. 

Nicht immerzu, aber öfter bitte. Und das Reich Gottes ist klein, 

wie ein Senfkorn. Kein Stein auf deinem Rücken. 

Aber es passt in jede Ritze. 

Den anderen nicht übersehen und nicht übersehen werden, 

gehört dazu zum Reich Gottes. 

Und sich zuständig fühlen gehört dazu. 

Und Herzensverstand.  Amen

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, 

der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß 

und stärke unsre Liebe. Amen. 





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