Dienstag, 29. April 2025

Flamingos in der Börde

Predigt für die Bewohner*innen 

eines Pflegeheims in Mansfeld

Am Ostersonntag habe ich einen Flamingo gesehen - in meinem Garten in Groß Ammensleben bei Magdeburg. Ich war mir ganz sicher. 100%ig. Meine Familie bekam nur Lachanfälle. Die glaubten mir nicht. Ein Flamingo. Naklar. Das war bestimmt nur ne Krähe. Aber ich wusste, was ich gesehen hatte, ganz tief über den Dach von Nachbars Schuppen: ein riesiger Vogel. Lange Beine. Langer Schnabel, nach unten hängend. Weite Flügel. Im Licht der untergehenden Sonne schimmert er irgendwie - ich fand es sah aus wie rosa. Ist doch klar, das kann nur ein Flamingo gewesen sein. Als alle noch lachen, rauscht es über unseren Köpfe. Zwei sind sie. Ihre Flüge sind weit. Atemberaubend weit. Helle Federn. Lange Beine, ein langer Hals. Mit sehr langsamen Schwingen fliegen sie über unseren Köpfen sehr dicht. Wir halten fast den Atem. Genau über uns sehen wir im Tiefflug … zwei Störche. Nagut. Kein Flamingo. Es waren Störche. Ihr weißes Gefieder hatte in der Sonne leicht rosa ausgesehen und die langen Zweige und Ästchen in ihren langen Schnäbeln wirkten wie ein nach unten gebogen Schnabel. Aber toll war das! Die Flügel so breit. 2 Meter, sagt man. (Wenn Du Deine Arme ausbreitest, dann hast Du eine Spannweiter, die Deiner Körpergröße entspricht.) 


Die Störche flogen noch den ganzen Nachmittag sehr tief über unseren Köpfen mit lauter Gestrüpp im Schnabel hin und her. Am nächsten Tag ging ich in Flugrichtung, um sie zu suchen. In der Nachbargasse, kaum 200 m von meiner Hollywoodschaukel entfernt habe ich ihr Nest gefunden. Junge Störche, die Schnäbel kaum richtig rot. Oben auf einem Strommast hatten sie begonnen ein Nest zu bauen. Noch sah es nach nichts aus. Locker gelegte Stöcke kreuz und quer. Die Hälfte hing herunter, auch in die Stromleitungen. Was haben sich die beiden nur dabei gedacht! Kein besonders sicherer Grund. Immer wieder aber breiteten sie ihre weiten Flügel aus und flogen los, mehr Material holen. Ein mächtiges Gefühl ist das, wenn diese riesen Flügen genau über einem sind. Alle im Dorf freuen sich über dieses Storchenpaar. In den nächsten Tagen kommt dann die Feuerwehr und sie werden den Strom abstellen und dort oben einen großen Ring anbringen, damit die beiden ein sicheres Nest haben und nicht abstürzen. Viele Menschen helfen und packen mit an. Die beiden brauchen unsere Hilfe. Dann wird das Nest sicherer sein und sie können dort nisten. 



Erinnert Ihr Euch noch? Als Ihr alle so junge Störche wart? Ganz junge Menschen wart? Und habt Euch ein Nest gebaut? Seid ins eigene Leben gegangen? Eine eigene Wohnung oder nur ein kleines Zimmer. Manche mit einem Partner. Und manche sind nochmal umgezogen, wie der in ein Neues. So manche Lebensstationen habt Ihr erlebt. Was da alles schief laufen kann im Leben. Wie ein schief hängendes wackeliges Storchennest kann es in unserem Leben auch sein. Wo uns etwas neu ist. Wo wir etwas anfangen. Wo wir nicht so gute Bedingungen vorfinden. Wo der Sturm des Lebens uns auch mal umlegt mit einer Krankheit, einem Abschied, einem Verlust, einer Kündigung. Viele von Euch haben das im Leben erlebt, dass Ihr gut Nester und gutes Leben hattet und auch dass es nicht nur immer gut geht und gerade. Dass man manchmal Hilfe braucht, wie die Störche etwas unter ihr Nest bekommen müssen, damit es gut ausgeht mit ihnen. Und dass man Hilfe finden kann. Dass andere einem unter die Arme greifen, wie eine Feuerwehr den Störchen auf dem wackligen Nest. Die Störche werden sich sicher wundern. Woher plötzlich diese Hilfe kam. Ich habe mich auch schon oft gewundert. Wie etwas wieder gut wurde, wie ich plötzlich wieder aufatmen konnte. Wie sich eine Lösung fand. Wie ich wieder gesund wurde. Wie ich im Schmerz aufatmen konnte. Wie ich einen Ort hatte, wo ich mich wohl fühlte, meinen Kopf getrost mal niederlegen konnte und Trost fand. Wie ich aufblicken konnte und mich wieder freuen. Wie ich wieder weiter konnte, gerade, wenn ich müde war und erschöpft. Wie ich manches aushalten konnte, was ich vorher nicht ahnte. Wie ich ohnmächtig war wegen all der Dinge, die im Leben passierten, ohne dass ich es mir ausgesucht habe und das ausgehalten habe. Wie ich Glückliches erlebte und das mir Dinge gelangen. Wie ein Aufschwingen. Gerade so wie die Störche, wenn sie die Flügel breit machen und losfliegen. Eigentlich denkst Du, sie sind viel zu schwer und zu groß dafür, aber dann geht es aufwärts und sie fliegen. 


Eines Tages werden auch unsere beiden Störche älter werden, dann werden sie es auch merken. Dass sie ihre breiten Schwingen nicht mehr so leicht in die Luft bekommen und manchmal etwas wackelig sind beim Fliegen und Landen. Menschen werden auch wackelig, wenn sie älter werden. Und egal wann in unserem Leben: wir brauchen alle einen guten Ort zum Leben. Ein zu Hause, in dem wir aufgehoben sind, ein gutes Nest. Das ist erst unser Elternhaus, dann unser erstes Eigenes, vielleicht ein Wohnheim, dann eine Wohnung, ein Haus, ein Wohnwagen oder ein Haus wie dieses hier, ein Ort, wo Menschen zusammen leben und Unterstützung finden. 

Und ob jung oder alt, brauchen wir außerdem die Kraft, daran glauben zu können: dass Dinge gut werden. Dass Hilfe kommt. Dass wir etwas Bestimmtes schaffen werden. Dass wir nicht alleine sein werde. Dass wir keine Angst haben müssen. Dass das Leben schön sein kann und erfüllend. Die Kraft, das zu glauben,  ist so oft einfach da. Manchmal sind es andere. Sie geben uns Kraft mit ihrer Fröhlichkeit und mit ihrer Liebe. Manchmal finden wir die Stärke in uns selbst, weil wir schon soviel geschafft haben. Manchmal merken wir gleich, dass Gott sie uns in Hände und Geist und Herzen gibt. Ich glaube daran: hinter allem diesem steckt Gott, der Kraftschenker. Auf viele Weise breitet er über uns Flügel, meterweit. Hält seine Hände darunter, wo wir Nester bauen und Geborgenheit brauchen. Unsichtbar macht er das. 


Die Bibelschreiber haben es aufgeschrieben:

„Der Ewige, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt den Müden Kraft und Stärke genug den Ohnmächtigen.Junge werden müde und matt und viele Menschen straucheln und fallen;aber die auf Gott vertrauen, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ (Jes 40) 


Das dürft Ihr glauben!


Ich glaube nur was ich sehe, sagt damals Thomas, als Jesus auferstanden ist. Und Jesus antwortet, dass man auch mit dem Herzen sehen kann. Dass man gerade dann sieht wenn man glaubt. Nämlich: dass Gott bewahrt, mit mir baut. Mit mir umzieht, wohin ich auch gehe oder gehen muss. Mir Liebe und Stärke gibt: ob ich jung bin, mitten im Leben oder ob ich alt geworden bin. Dass er es ist, der mir Aufwind gibt für meine kleinen Lebensflügel jeden Tag. Amen.



Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft 


bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Freitag, 18. April 2025

... die unter dem Kreuz...

Predigt zu Karfreitag

Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten. Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied. (Joh 19, 16-30)



                                                                                                                        (Bildrechte: Lea-May Lerbs)


Wann ist jemand gestorben? fragt die eine Maria die andere. Sie stehen unter dem Kreuz. Sehen Jesus da noch als Lebenden mit Haut und Haar. Sehen die Wärme. Sehen das Blut. Die Augen, die Hände. Er ist noch da. So sehr da. Es ist vollbracht. Wer sagt das? War es Jesus? Woher weiß er das? Ist nicht noch Leben in ihm? Aus seiner Seite läuft doch noch Blut. Er ist so gegenwärtig wie immer. Da vor ihnen. Der Jesus in ihnen ist nur lebendig. Geschichten und Worte, Berührungen, Erlittenes, Wärme, Gemeinschaft, Wut und Liebe. Es ist alles noch da. Sie kennen nur ein Leben mit Jesus. Und der Tod? Wie wäre ein Leben ohne Jesus? Der Tod macht gerade gefühlt nur einen Wimpernschlag ihres gemeinsame Erlebens aus. Die graue Macht der Endgültigkeit legt einen ersten Finger in ihre Seele, als sie so auf ihn schauen.  Blass. Ohne Atem. Ohne Bewegungen. Ohne Leben.

Ihn nehmen und festhalten. Das brauchen sie. Ein letztes Mal. Das wünschen sie sich, wie sie dort stehen. Sie selbst haben sich das alles so nicht gewünscht. Nicht so. Selbst wenn es, wie Jesus sagt, Sinn machen würde. Sie möchten das alles hier nicht. Es ist zur Unzeit gekommen. Wie der Tod oft zur Unzeit kommt. Sie sind abgeschnitten von dem, der ihnen den Kopf verdreht und die Sinne geweckt, der ihren Geist so lebendig werden ließ und Gott, ja, Gott selbst lebendig werden ließ. Nun sollen sie ihn ins Grab legen, wo er noch so lebendig erscheint? Den Stein davor rollen, als wolle man sich des Todes versichern? Wo beginnt der Tod? 


Johannes will es gut machen, als er das alles aufschreibt, jedes Detail, in die Geschichte der Kreuzigung. Für alle, die das jetzt oder später brauchen, die Geschichte von Jesus dem Gottessohn, der näher kam als die Menschen das je wahrgenommen hatten. Bilder reichen ihm nicht. Johannes will das Verborgene mit beschreiben. Das damals nur Gespürte. Das Unaussprechliche. Nein, sein Jesus schreit nicht. Er ist doch schon längst mitten im Tod vom Leben umfangen, schon zuvor. Mitten im Tod schon vom Leben umfangen. Das Wort, das in die Welt kam. Darum nicht leidende Schreie am Kreuz, sondern ein Vollbringen. Es ist vollbracht. Er muss auch das Schwere, Harte, Unmögliche durchqueren, Leid erfahren, damit die Hoffnung daraus später schwerer wiegen wird. Unmögliches zu durchqueren macht Hoffnung. Gleichzeitig spiegelt Jesus für alle, die hinsehen, die eigene Leidensmomente, spiegelt alles Auslöschen von Leben auf dieser Welt. Wo Leben, wo Beziehung, wo Hoffnung, wo Vertrautes, wo Menschen zu Ende sind. Weil man es im Leben auch mal braucht, dass etwas ungeschönt dastehen darf. Weil sichtbar werden soll, dass er mit all dem Gepäck der Schwere des Lebens hindurchkommen wird. Der Sohn zum Vater. Zum wartenden Vater. So wie Du und ich durchkommen werden. In Momenten der Auslöschung. Wo vieles ungeschönt bleibt. Aber die Hoffnung schwerer wiegt als leicht erhaltene Hoffnung. 


Johannes hört Maria noch weinen. Für ihn steht sie nicht von ferne, wie alle anderen Evangelisten die Geschichte von Jesus beschreiben. Johannes interessieren die, die bleiben. Die mit Jesus gingen. Männer und Frauen. Die, die weiter gingen, bis heute. Bis hierher in diese Kirchenbank. Die nimmt er in den Blick. Sie stehen nicht von Ferne in seinem Blick. Sie stehen nahe. Direkt unter dem Kreuz. Nur er erzählt das so. Es gibt so gut wie gar keine künstlerische Darstellungen aus diesem Blickwinkel. Der nahen Männer und Frauen unter dem Kreuz. Die meisten Bilder suchen den Abstand. Die Kühle eines fernen Objektivs. Johannes stellt sich aber dazu. Nur so verstehst Du, sagt er damit: wenn Du es nahe an Dich heran lässt: diesen Menschen mit seiner unbändigen heilenden weltverrückenden Liebe und seinen Tod. Das Ungeschönte. Hier, unter dem Kreuz, wirst Du eventuell schon etwas davon spüren, dass hier nicht nur Tod ist. Denn hier ist auch Gemeinschaft. In ihr steckt das Leben. Unter dem Kreuz begann es, nein, ging es weiter - Menschen standen zusammen bei Jesus. Johannes geht ganz dicht heran. 


So dicht den Tod zu sehen und wissen: dieser hier wird wieder leben. Dieses Ausgelöschte wird wieder erwachen. Das soll eine Prägung in Dein Herz sein: Himmelsprägung. Das Wissen um den Tod. Und das Wissen um ein Danach. Ein Dahinter. Für die Momente in Deinem Leben, wo Du viel zu nahe an Kreuzen stehst und hast Dir das alles so nicht gewünscht. Wie Tom in seinem Bett auf der Palliativstation das kleine Kreuz in seinen Händen hielt, kann das Kreuz Dir ein Danach- und Dennoch -Symbol sein. 


Es erinnert an DICH, Jesus, ich will Deinen Namen aussprechen. An Dich, den Vorausgeher, Vor-uns-her-Geher, Menschen-zusammen-Binder, Jesus an Dich, den Mächten Trotzender, über alle Grenzen Liebender, gegen Konventionen und Tabus Springender, Sichbarmacher aller Schläge der Welt, Aushaltender, Leid und Krankheit Heilender und Sehender. Kaum etwas hat die Weltgeschichte so beeinflusst, Jesus, wie Dein Sehen, Gehen, Trotzen, Lieben, Leiden. 


Empathie, behauptet ein berühmter Amerikaner, ist eine Art Krankheit, ist eine Schwäche. Empathie, sagt das Kreuz, ist weiter gehen in der Liebe. Jesus ging weiter als wir es je könnten. Ohne Limit. Die Kreuze hängen bis heute dort, wo Menschen das wissen, sich erinnern, sich versammeln unter dem Kreuz, nachfolgen und glauben. Amen.


Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, 

der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß 

und stärke unsre Liebe. 

Amen.


Sonntag, 13. April 2025

... von unserer Müdigkeit...

 

Predigt zu Palmsonntag in Stendal 





Mein Passionskranz hat für jede Woche ein neues Licht. Ähnlich wie bei einem Adventskranz zünden wir sonntags eine neue Kerze an. An jedem Sonntag der Passionszeit. Karfreitag bleibt er aus. Ostersonntag brennen dann alle 7 Kerzen und in die Mitte stellen wir die Osterkerze. Ein Kollege hat diesen „Schnickschnack" kritisiert. Das wäre theologisch doch völlig falsch. Ich solle doch lieber mit allen Kerzen beginnen und jede Woche eine ausblasen. Jesus geht ans Kreuz. Kein Grund zur Freude… Er hat mich nicht überzeugt. Die Passionszeit ist eine Zeit, wo ich einen Gang zurück schalte. Ich ändere meine Lebensgewohnheiten, indem ich faste. Mir tut das einfach gut. Ich ändere etwas an meiner Bewegung und an meinem Essen. Und das alles ändert etwas an meiner Aufmerksamkeit. An meiner Klarheit. An meiner Verletzlichkeit. An meiner Müdigkeit. Die Jünger und Jüngerinnen wurden auch nicht immer trauriger. Im Gegenteil! Ihre Hoffnungen wurden immer größer. Freilich. Das, was sie erhofft hatten, das geschah nicht so, wie sie es erwartet hatten. Sondern ganz anders. So groß hätten sie niemals zu hoffen gewagt. Dass am Ende Jesus sogar den Tod überwinden würde. Darum zünde ich jeden Passionssonntag eine Kerze mehr an. Für mehr Hoffnung. Für steigenden Mut. Für weniger Müdigkeit. Erwartungskerzen. Auf das, was Gott mit meinem Leben machen wird.

Der Prophet Jesaja erzählt, was Gott mit seinem Leben macht. 
Nämlich jeden Morgen:
Ihn jeden Morgen zu wecken,
dass er oder sie aufstehen kann.
So banal das klingt… für manche ist das schon eine Menge in diesen Tagen.
Überhaupt noch aufstehen.
Wie klebrige Spinnfäden liegt Müdigkeit auf vielen Gesichtern und Herzen. 
Manche sind der Gesellschaft müde geworden -
des Zuhörens, 
des Streitens,
des Glaubens,
des Lebens. 
Und manchmal versteh ich das und so viele sind zu recht müde an mancher Leere, manchem Unerfüllten, mancher Angst, mancher übergroßen Anstrengung. Und oft versteh Ichs nicht. Was hat uns denn alle so erschöpft? Durch welche Entbehrung und Nächte sind wir als Gesellschaft gegangen? Was für schreckliche Träume müssen wir ausbaden, was ist so eingebrochen und so voll Mangel, dass wir kaum Kraft haben, wach zu sein? So dass man sich dem kaum entziehen kann? Warum fällt jeder früher für möglich gehaltene Aufbruch aus - wegen Müdigkeit? Und doch ist genügend Energie, um gegen andere zu protestieren, etwas nicht zu wollen, abzulehnen, zu kritisieren und sich zu wehren. Und fürs Eigene? Sich selbst zu bewegen aus einer bequemen Position. Sich zu verändern für die, die nach uns kommen. Sich zu öffnen für Neues und mit Sicherheit Bereicherndes. Die Hand zu reichen. Eine Brücke zu bauen. Mit den Folgen unseres Handelns und unseres Lebensstils zu leben. Fremden zuzuhören. Eigenes in Frage stellen zu lassen. Dafür sind wir müde. So müde. Manchmal sind wir gerne lieber müde. Manchmal würden wir da gerne raus.

„Gott, die Macht über uns, hat mir eine Zunge gegeben wie jemandem, der noch lernt, damit ich es verstehe, die Müden mit einem Wort zu stärken. Jeden Morgen weckt er mir das Ohr, damit ich höre wie jemand, die noch lernt. Gott, hat mir das Ohr geöffnet.“ … spricht Jesaja, ein alter Prophet.*

Von allen möglichen Zielgruppen hat Gott sich die Müden ausgesucht. Er schickt jemanden, die Müden mit einem Wort zu stärken. Mich und Dich. Uns Müde. Wahrheitsmüde. Bekenntnismüde. Mutigseinsmüde. Und Geradestehmüde. Veränderungsmüde. Katastrophenmüde. Glaubensmüde. Aufstehmüde. Aufbruchs-müde. 

Von allen möglichen Zielgruppen hat Gott sich außerdem auch noch uns ausgesucht, uns zu den Müden zu schicken. Mit stärkenden Worten.

"Gott, hat mir das Ohr geöffnet. Und ich sträube mich nicht. Ich weiche nicht zurück. Meinen Rücken gab ich denen, die schlagen, meine Wangen denen, die prügeln. Mein Gesicht habe ich nicht verborgen vor Schmähworten und Speichel.“

Er hat uns in die Morgengruppe geschickt. Zu denen, die er morgens weckt mit seiner Kraft. Er aktiviert den Seinen die Zunge und das Ohr. Jeden Tag. Er schickt Bilder des Aufbruchs und des Sieges über den Tod, dass sie lang verinnerlichte Hoffnungslosigkeiten, Lebensstile und Verzagen, Bequemlichkeit und Kleinglauben fahren lassen können. Er öffnet den Seinen die Ohren - dass sie sein Wort hören können. Bis ins innerste Tiefe des Herzens. Du bist einer, Du bist eine von den Seinen. Morgens weckt er Dich. Löst Zunge und Ohren. Löst Mut und Herzenblickigkeit. Er lässt Dich nicht fertig sein. Er lässt Dich wachsen, wie einen österlichen Adventskranz. Immer dem Licht zu. Noch nicht fertig. Lernende, Lernender des Herrn. In diesen Zeiten heißt das auch mal hart zu bleiben.

„Gott, hilft mir, darum werde ich nicht beschämt, darum mache ich mein Gesicht hart wie einen Kieselstein und weiß, dass ich nicht zuschanden werde.“

Nein, verhärten sollst Du sicher nicht. Aber felsenfest an seinem Wort bleiben, wo sie an der Nächstenliebe kratzen, die Fremden beschämen, den Armen Gewalt antun, die Wahrheit verdrehen, die Liebe verachten, das Mitgefühl als Fehler belächeln. Da höre genau hin. Lass Deine Zunge sprechen und zeige Haltung. Was den Kern des Glaubens betrifft, sollen sie auf Granit beißen. Hart wie Kieselsteine sollst Du die Grenzen der Mitmenschlichkeit aufzeigen und mutig das Wort ergreifen. Das Wort, das die Müdigkeiten zerschlägt. 

Heute und kommende Woche feiern unsere jüdischen Geschwister Pessach. Fest des Aufbruchs und der Sehnsucht. Heute und kommende Woche ist es auch bei uns die Heilige Woche, in der wir das Kreuz nochmal oder erstmals verstehen lernen. Als Lernende des Lebens, des Glaubens. Immer wieder neu. als die nicht Fertigen. Gott lässt seinen Propheten dafür Mutworte sagen. Morgenworte. Aufstehworte. Für Dich und Mich. Hab keine Angst. Steh auf und erhebe Dein Haupt. Leg ab die Müdigkeit. Höre. Sprich. Lass leben den Geist Gottes unter den Menschenkindern.

„Nahe ist mir die Macht, die mich gerecht macht! Wer will mit mir streiten? Lasst uns miteinander vortreten! Wer will mein Recht beugen? Sie sollen nur kommen! Schaut, Gott, die Macht über uns, hilft mir. Wer will mich verurteilen?"

Lasst uns miteinander vortreten! ruft Jesaja. Miteinander. Vortreten. Aus der Reihe. Sichtbar sein. Das andere merken - Du bist eine von denen. Eine mit Hoffnung. Die Hoffnungen der Jüngerinnen und  Jünger wurden damals immer größer. Freilich. Das, was sie erhofft hatten, das geschah nicht so, wie sie es erwartet hatten. Sondern ganz anders. So groß hätten sie niemals zu hoffen gewagt. Danach taten sie es laut. Und lauter. Das Hoffen.

Ich bitte Dich, Dir einen Moment zu nehmen. Was wäre es in dieser Woche? Wo könntest Du diese Woche aufbrechen? Mutiger sein? Ein Wort für einen Müden /eine Müde oder Deine eigene Müdigkeit finden und auch sagen? Laut. Nimm es Dir vor. Überleg es so konkret wie möglich.

Gott gab uns Ohren. Und Stimmen. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, 

der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß 

und stärke unsre Liebe. Amen.



(*Bibeltexte Jesaja 50, 4-9 nach der Bibelübersetzung in Gerechter Sprache.)


Sonntag, 6. April 2025

Seht, welch ein Mensch...


Predigt über das Menschsein

am Sonntag Judika in Halle/Saale




Was sagen die anderen über mich, wer ich sei?

Und was ist wahr?

Was ist wahr über mich?


Sagst Du das oder ist es das, was die anderen über mich sagen? fragt Laura. 

Sie wohnt in einer Kinderwohngruppe für geistig behinderte Kinder. 

Behindert. Sagst Du das? Oder was ist es, was die anderen über mich sagen? 

Die da draußen. Über mich. Die keine gute Familie hat. 

Die vernachlässigt wurde als Kind. Die „nur“ auf eine Förderschule geht. 

Behindert. Sagst du.

Laura sage ich. Laura sein ist meine Identität. 

Ich bin die weltbeste Puzzle-Löserin und ich bin geduldig und lustig und lache viel. 

Ich bin Laura.

Du bist Laura? 

Du sagst es. 

Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen. 

Seht, welch ein Mensch!


Sagst Du es oder ist es das, was die anderen über mich sagen, fragt Dennis. 

Dennis sitzt im Gottesdienst für queere Menschen. 

Schwul. Nicht normal. Sagst du das? Oder was ist es, was die anderen über mich sagen?

 Die meinen Anstecker mit dem Regenbogen sehen und nicht mich dahinter: 

Biolehrer. Glücklich. Verheiratet. Mit meinem Partner. Naturliebhaber. 

Serienfreak. Omakind. Kuchenteignascher. Tanzbegeistert. Dennis. 

Der Schwule - sagst du. Dennis sage ich

Dennis sein ist meine Identität. 

Du bist also Dennis? 

Du sagst es. 

Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen. 

Seht, welche ein Mensch!


Sagst Du es oder ist es das, was die anderen über mich sagen, fragt Gerda, e

ine Hand am Rollator. Die Alte. Sagst Du das? Oder was ist es, das die anderen über mich sagen? 

Die hört schwer. Die ist nicht mehr ganz richtig. Zu alt. Zu schwach um alleine zu leben. 

Die Alte. Sagst du. Ich sage Gerda. 

Gerda sein ist meine Identität. Eine tolle Identität mit Geschichte und mit Leidenschaft, 

mit Geheimnissen, mit Persönlichkeit, ich bin stark. 

Ich habe Dinge durchstanden davon hast du keine Ahnung. 

Die Alte. Sagst du. Ich sage Gerda. 

Du bist Gerda

Du sagst es. 

Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen. 

Seht, welch ein Mensch!


Wer bist Du? Bist Du es? Du, hier. Was ist es, das die anderen über Dich sagen? (…) 

Was ist Deine Identität?

Was sagen die anderen über Dich, wer Du seist und was ist wahr? 

Was lässt Du zu, dass es Dich bestimmt?

Wozu bist Du geboren und in die Welt gekommen?


Da ging Pilatus hinein ins Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: 

Bist Du der Juden König? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, 

oder haben das die anderen über mich gesagt?“ …“So bist du Dennoch König?“ 

„Du sagst es. Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, 

dass ich die Wahrheit bezeuge. “ „Seht, welch ein Mensch!“


Was ist wahr an Jesus? 

Sein Atem. Sein Herzschlag. 

Sein Haar. Die Füße voll Staub? Gott in ihm?

Oder wird erst etwas wahr? Mit ihm?

In jenem Moment zwischen Jesus und Pilatus?

Der wie ein Getriebener hin und her eilt

zwischen Jesus und der Welt.

Ähnlich wie wir, 

wo wir suchen, Christus in die Welt zu tragen.

Hin und Her. 

Vor die Tür nach draußen und hinein ins Innerste.

Jesus und Pilatus Auge in Auge.

Pilatus eigentlich ein stückweit verzweifelt.

Er spürt es, das Besondere in Jesus.

Er spürt die Wahrheit.

Seine Augen spüren sie. Sein Herz vielleicht.

Und seine Finger könnten die Wahrheit direkt berühren.

So nahe.

Sein Geist aber findet den Faden nicht.

Auch wie wir so oft.

Wo ist der sichtbare Gottesfaden?

Pilatus ist gefangen in der Macht. 

Im Machtsystem. 

Im Machtsystemdenken. 

Kein Ausweg. Denkt er.

Nicht hier.

Er muss richten.

Und ein Schimmer von einer Wahrheit

zwischen Jesus und ihm.

Von Mensch zu Mensch. 


Laura und Du und ich 

Und Dennis und Gerda.

Manchmal ist die Wahrheit so nah.

In einemFunken 

kaum zu fassen.

Im Erkennen.


Wahrheit ist wie ein Neugeborenes, 

das nur neugeboren ist im ersten Moment.

Dann schon kommt die Welt und Ansprüche und Vorurteile, 

Traditionen und Erwartungen und Bilder.

Wahrheit ist wie der Schimmer in der Verklärung Jesu 

auf dem Berg mit ein paar Jüngern. Nur kurz.

Dieser Moment.

Nichts zum Festhalten.

Schöpfungsmomente

des Lebens.

Momente ohne zu richten

und gerichtet zu werden.


In Jesus sind die

Wahrheit

und 

Leben.


Ob er weiß, was er da sagt, Pilatus?

Seht, welch ein Mensch?

Die Wahrheit!

Gott!

Lebensgrund!


Seht, Gott in Laura und Dennis und Gerda.

Das wärs - 

den Menschen heraussehen aus dem,

was die anderen über ihn sagen. 

Den Grund sehen.

Die Wahrheit und das Leben.

Das wärs:

jetzt damit anfangen.

Momente ohne „richten und gerichtet werden" zu suchen.

Momente der Wahrheit

und des Lebens.

Momente wie Neugeborenes.

Jesus überall suchen und sagen - immer wieder:

Seht, welch ein Mensch! Amen.


Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, 

der halte unser Verstand wach und unsre Hoffnung groß 

und stärke unsre Liebe. Amen.


Nur zusammen der Leib Christi...

Predigt zum CSD 2025 in Merseburg Du bist kein Zufall Sondern Deine Identität ist voll und ganz absichtlich so wie Du bist und ich auch ...