Samstag, 20. Oktober 2018

Kirmespredigt 
"Er gehört zu mir wie mein Name an der Tür..."




Was gehört alles zu mir?
Also ich erstmal.
Mein Körper.
Nein, heute sagt man „body“.
Meine Haare.
Meine Stimme.
Mein Humor. Oder Nichthumor.
Meine Fähigkeit zu kochen.
Oder zu bauen.
Mein Charakter. 
Meine Kindheit.
Meine Träume.
Meien Talente.
Meine Lebensgeschichte.
Meine Vorlieben.
Meine Musik.
Mein Stil.
Mein account.
Mein Name.
Und andere gehören zu mir.
Meine Eltern. Großeltern.
Meine Familie.
Die, die ich liebe.
Meine Heimat gehört zu mir.
Und Gott. 
Könnte man doch auch so sagen, oder?
Gott gehört zu mir.
Wie mein Name. An der Tür.

Lied: Er gehört zu mir wie mein Name an der Tür... (gemeinsam gesungen)

Ihr wisst wie es ist,
wenn man überlegt, was man mit seinem Leben anfangen will,
wenn man unsicher ist, was für ein Beruf zu einem passt,
wenn man ganz sicher ist, was man will 
und bangt, ob alles klappt,
wenn man keine Ahnung hat, wo der Weg hingehen soll. 
Wenn man im Abitur ist und es ernst wird und einem klar wird, dass das jetzt echt etwas bedeutet und irgendwie nachhaltig wichtig werden kann fürs Leben.

So ging es einem vor 60 Jahren. 
Er hat es mir neulich erzählt.
Er hatte alles richtig gemacht: Abschluss  mit 1,0.
Musikinstrument. Sportabzeichen.  Das volle Programm.
Die Lehrerkonferenz entscheidet 49:1 gegen das Abitur.
Er wird nicht an die EOS delegiert.
Der beste Schüler des Jahrgangs. 
Mit einem Traum im Herzen.
Den, Arzt zu werden. Menschen zu heilen.
Warum er kein Abitur machen soll?
Er ist in der Kirche.
Er bekennt sich zum Evangelischen Glauben.
Er hat die Konfirmation mitgemacht.
Er hat die Jugendweihe abgelehnt.
Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür….
Ihn gab es nur als Christ. 
Ihn gab es nicht ohne seinen Glauben.
Gott gehörte zu ihm, wie sein Name.

Aber es gab noch so einen.
Er war junger Lehrer. 
In seinem zweiten Jahr.
In besagter Lehrerkonferenz, die gegen den Junge entschied,
erhob er sich, packte seine Tasche, stand auf 
und sagte:
„Unter diesen Umständen 
kann ich diesen Beruf nicht ausüben.“
Er verließ das Gebäude und blieb zu Hause.
Was in den Tagen dazwischen geschehen ist, 
hat er nie erfahren.
Tage später besucht ihn ein neue Schulleiter.
Er bat ihn, wieder an die Schule zu kommen.
Er wusste, dass er in diesem jungen Mann 
einen unverzichtbaren und guten Lehrer haben würde.
So einen, wie ihn junge Leute brauchen.
Der junge Lehrer aber lehnte ab.
Er käme nur wieder, wenn der Schüler mit den Bestnoten
die Delegation zum Abitur bekommen würde.
Am nächsten Tag gab es eine neue Abstimmung.
Der Schüler bekam die Delegation.
Der junge Lehrer, der war Kirchenmitglied.
Allen Erpressungsversuchen zum Trotz hatte er sich geweigert, aus der Kirche auszutreten.

Er gehört zu mir.
Der Glaube gehört zu mir,
sagte der Lehrer, als er mir neulich diese Geschichte erzählte.
Nun ist er bereits 80 Jahre alt.
In der Zeitung fand er  ein Bild.
Es zeigt einen Arzt, der seine Praxis seinem Sohn übergibt.
Vater-Arzt lächelt stolz in die Kamera.
Der 80jährige ältere Herr wies mit dem Kopf auf das Bild.
„Das ist er.“, sagte er.
„Er hat es geschafft.
Er ist Arzt geworden.
Und sein Sohn ist es jetzt auch.“
Bewegt hält er inne. 
„Das hab ich noch nie jemandem erzählt.
Und der Junge weiß auch nichts davon.“
Tränen stehen in seinen Augen.
Er hat es immer so gehalten in seinem Leben.
Ihn gab es nur als Christ.
Gott gehört zu mir.
Er gehört zu mir.
Wie mein Name an der Tür.
Und um die Frage zu beantworten: Ja! 
Das ist wahre Liebe, die niemals vergeht.
Er bleibt immer hier. Amen


Lied: Er gehört zu mir wie mein Name an der Tür... (gemeinsam gesungen)


Samstag, 13. Oktober 2018


Predigt für den 14. Oktober 2018 
- die Zeit ist kurz .....

Wie in jeder Woche wurde der Bibelspruch des kommenden Sonntags in großen Buchstaben in den Schaukasten der Kirchengemeinde gehängt.
Alle Leute, die in dieser Woche an den Worten aus der Bibel vorbei gingen, sollten sie lesen, sie im Herzen bewegen und in ihr Leben in dieser Woche einwirken lassen und am kommenden Sonntag würden sie einen Gottesdienst feiern und diese Worte der Bibel in ihrer Mitte bewegen. So machten sie das schon seit vielen Jahren.

Als Dietrich Anfang der Woche am Schaukasten vorbei kam, las er dort folgende Worte:

„Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. 
Alles ist mir erlaubt, 
aber nichts soll Macht haben über mich. 
Das sage ich aber, liebe Schwestern und Brüder: 
Die Zeit ist kurz. 
Auch sollen die, 
die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; 
und die weinen, als weinten sie nicht; 
und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; 
und die kaufen, als behielten sie es nicht; 
und die diese Welt gebrauchen, 
als brauchten sie sie nicht. 
Denn das Wesen dieser Welt vergeht. 
Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid.“ 
(1.Kor 6, 12+ 7,29-32a)

Dietrich schüttelte ein wenig den Kopf. Dann schnaubte er ironisch. So soll das Reich Gottes gelebt werden? „Diejenige, die Frauen haben, sollen tun als hätten sie keine“? Mit einem spitzbübisches Lächeln in den Mundwinkeln hob er den Kopf. Na dann, Herr Pfarrer! Das werde ich tun. Erst heute morgen hatte Sieglinde sich beschwert, ob er vorhätte den Titel „Held der Arbeit“ zu bekommen, weil er so viel im Büro sei. Was, wenn er die Bibelworte in dieser Woche mal in die Tat umsetzte? „Die, die Frauen haben, sollen sein, als hätten sie keine“? „Nichts soll Macht über mich haben“? Den ganzen Tag über im Büro hatte er schon so ein Flattern im Bauch. Er fühlte sich wagemutig. Aufgekratzt. Ganz nebenbei brachte er sogar seiner Sekretärin einen  Kaffee an den Tisch, was sie mit einer gehobenen Augenbraue erstaunt zur Kenntnis nahm. Es wurde 16 Uhr. Dietrich war in den letzten Wochen immer deutlich länger geblieben, aber heute erwartete er ungeduldig den Schlag der Uhr. Er schnappte sich seine Tasche und verließ schlagartig den Arbeitsplatz. Sein Herz flatterte noch mehr. Die Gedanken überschlugen sich. Er würde jetzt so tun als ob er nicht verheiratet wäre. Ein ungewohntes Kichern kroch seine kleine Bauchrundung empor. Entschlossen öffnete er die Strickjacke und nahm noch im Laufen den Schlips ab. Der war von Tante Erika. Wie alle anderen 37 im Schrank auch. Vor der Haustür blieb er abrupt stehen. Seine Hand mit dem Schlüssel sank langsam herab. Hier, wo seine Frau Sieglinde wartete, die alle Strickjacken und Schlipse wusch, die jede Gardine des Hauses selbst bestickt hatte und deren Sofahälfte einen ebenso tiefen Abdruck zeigte wie seine eigene Hälfte, hier  würde er heute vorbei gehen. Tief holte er Luft. Steckte den Schlüssel in die Tasche und ging einfach weiter. So als gehöre er nicht hierher. Bald schon musste er sich konzentrieren. Lange war er nicht mehr zu Fuß durch diese Straßen gegangen. Manche Fassade hatte sich verändert und viele Geschäfte ebenso. Er ließ sich einfach treiben. Ein völlig unbekanntes Gefühl: „Sich treiben lassen“. Es fühlte sich aufregend lebendig an. Einem Impuls folgend kehrte er in ein kleines Lokal ein und bestellte ein großes Ginger Ale - sowas hatte er noch nie probiert - und einen Martini. Mitten am Tag. Eine Martini. Er war gar kein Martini-Trinker. Interessiert schaute er den Leuten zu, die vorbei liefen. Dietrich schaute in ihre Gesichter. Er kam sich verwegen vor. Frisch wie nie. Nippte am Martini. Es war schön, so zu sitzen. So „als - ob“. Als ob er nicht das immer Gleiche machen müsste, als ob sein Leben nicht mehr vollkommen absehbar wäre bis zum Ende, als ob es noch so vieles gäbe, das er entscheiden können und neu machen. Er fühlte sich wach. Sein Handy klingelte. Sieglinde. Einen Moment wartete er, dann nahm er den Anruf an. Eine warme Stimme erklang. Diese Stimme mochte er. Hatte er immer gemocht. Er spürte sein Herz. „Ich komm gleich.“, sagte er kurz und legte auf. Er zahlte und ging. Das Flattern nahm er mit.

Musik (wird eingespielt): Über den Wolken…. (Strophe 1 +  Refrain)

Am Dienstag kam Carla am Schaukasten mit dem Bibelwort vorbei. Das, was dabei mit ihr geschah, hättest du nicht sehen können, denn es passierte ganz innen und in nur wenigen Momenten. Carla stutzte einen Moment als sie den Spruch las. „Weinen, als weinte man nicht…“ Sie überlegte eine Viertelsekunde lange, wie es wäre, tatsächlich nicht traurig zu sein. Wirklich nur eine Viertelsekunde lang. Und in der nächsten Viertelsekunde durchschwappte sie plötzlich ein heißes Gefühl durch den ganzen Bauch bis in die Beine. Sie fühlte ihren ganzen Körper und das warme freundliche Wallen darin. Das Gefühl war nur so groß wie eine Ahnung und trotzdem spürte sie es überall. Das dauerte genau eine Viertelsekunde lang. Lang genug, um die Eiseskälte zu schmelzen, die sie seit Wochen in sich herum trug. Die dritte Viertelsekunde spürte Carla ein tiefes Ruhen. Allertiefste feste Ruhe. Ganz in sich. Die hatte den Geschmack von etwas, das sie von früher von sich kannte, aber scheinbar vor einiger Zeit verloren hatte. Und die letzte Viertelsekunde war wie ein Aufsteigen aus einem erstaunlichen Gedanken. Mehr war es nicht. Nur eine ganze Sekunde lang. Und doch ging Carla als eine Andere weiter. Sie war nicht mal stehen geblieben. Es war nur dieses Wort gewesen: „die weinten seien als weinten sie nicht“. Dieses Wort war nun eingeprägt auf diese Sekunde ihres Lebens, die schwerer wog als all die Wochen davor. 

Musik: Über den Wolken…. (Strophe 2 + Refrain)

Auch am Mittwoch gingen viele Leute am Aushang im Schaukasten vorbei. Auch Leni und Marja. 13 Jahre alt. Sie kamen kichernd angeschlenkert. Es war nichts besonderes. In letzter Zeit kicherten sie über alles. Sie konnten gar nichts dagegen tun. Es kam einfach über sie. Manchmal wurde es sogar richtig peinlich. Sie konnten über den Bibelspruch da im Schaukasten nur den Kopf schütteln. Leute, die sich freuen, sollen sein, als freuten sie sich nicht? Die haben scheinbar keine Ahnung. Flüsterte Leni. Was soll das? Flüsterte Maria zurück. Soll ich mir noch den Müll der anderen aufladen? Dabei stolperte sie ungeschickt und die beiden rannten atemlos lachend davon.

Musik: Über den Wolken…. (Strophe 3 + Refrain)

Über den Wolken
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann
würde 
was uns groß und wichtig erscheint
Plötzlich nichtig und klein

Über den Wolken
und Hier
Im Himmel
der hin und wieder
unter uns ist
sind alle Grenzen und Sorgen
sagte man
in einem großen Wort geborgen
In einem Wort
das so stark ist
dass es dich schon nur im Vorbeigehen
verwandeln kann

Das Wort sagt dir, was du brauchst:
Löse dich 
sei geborgen und darum frei
das was dir groß und wichtig erscheint
könnte nichtig sein und klein
Öffne die Augen und schau
sagt das Wort
nimm mich in deine Gedanken 
erwarte noch etwas
wie  vielleicht ein
Flattern im Bauch
oder eine
Viertelsekunde Wärme bis in die Zehenspitzen
erwarte 
noch etwas 
von dir selbst
lebe
als ob
der Himmel 
noch kommt. Amen


Und das große Wort Gottes und der Friede Gottes, 
die größer sind, als all unser Vermögen, all unsere Vorstellung, 
bewahre uns und unsere  Herzen in der Liebe Gottes Amen.


Samstag, 6. Oktober 2018

Mutters Mantel

erste Stürme
eingehüllt im Bauch
und draußen der Mantel

erste Atemzüge 
wiegend zärtlich gehalten 
in ihrem Mantel

mit kalten kleinen Füßen am Badesee
wärmend eingehüllt 
in ihren Mantel

in tiefem Schlaf
leise hineingetragen
in Mutters Mantel

die schlechten Träume 
vollkommen abgeprallt
an Mutters Mantel
Verstecken gespielt
im Flur
hinter Mutters Mantel

Neujahrsnächte
Seite an Seite mit ihr
unter ihrem Mantel
wütend vor Liebeskummer
auf der alten Schaukel im Garten
mit Mutters Mantel

Umarmungen 
nach langem Schweigen
und der Geruch von Mutters Mantel 

Leben
immer
wie in Mutters Mantel




stell dir vor 
dass du 
vor die Tür gehst
vor deine 
wo immer sie sein mag
auf deinen Balkon oder
hinaus zum Garten
nur mal kurz nach hinten
an die frische Luft
für einen Moment zum Durchatmen
und stell dir vor 
wie du so hinaustrittst vor deine Tür
da wäre nichts
plötzlich nichts
ich meine nicht niemand oder stille Stille
sondern nicht mehr die Welt die du kennst
es würde sich zeigen
dass alles ein Irrtum war
eine Zusammenballung von Zufällen 
die dir eine Welt vorgaukelten
die immer die Gleiche zu sein schien
mit geordneten Linien aus Momenten und Raumpunkten
aber dort
hinter deiner Tür 
an diesem Morgen
wäre kein Boden mehr
keine Wiederkehr
und die Verlässlichkeit aller Ereignisse würde abbrechen ganz jäh
kein Raum mehr der dich umgibt
der stabil ist in seinen Grenzen
sondern ein Raum der abbiegt sich krümmt sich auflöst
nicht wiederkehrt
Farben und Geräusche zerrinnen in einem hohen Ton
Stimmen und Gesichter 
erscheinen dir unvertraut
es gibt kein Vertrautes mehr
keine Geschichte
in die du zurück kannst
alles was du kanntest und was dir eingeprägt schien in dein Herz 
wie eine SimKarte des Lebens
war ein großer Irrtum
du löst dich augenblicklich auf in Fäden aus Grau
es gibt keinen Punkt an den dein Denken zurückkehrt oder dein ich
du bewegst dich zwischen abbrechenden Strängen von Unbestimmtheit 
auf der Grenze von nichts
bodenlos
in Wellen von verwehtem Unbekanntem
nichts Menschliches mehr
keine Fixpunkte
was du bisher als fremd betrachtet hattest wäre dir näher als alles
wäre deinem Leben ähnlicher als nur ein einziger Aspekt in diesem neuen Jetzt
lächerlich erscheint dir die Annahme
zurück kehren zu können in das was du bisher hattest
keiner schien je zu ahnen
dass die bisher erforschte Welt 
weniger sei als die Pore einer Orange an einem Orangenbaum
in einem Orangenwald auf einem riesigen Orangenplaneten
eine irre Annahme
der nächste Moment könnte zurückkehren in all die Regeln des Lebens
zurück auf die Linie der Kontinuität 
und innerlich weißt du noch
dass du da stehst 
und nur gerade mal hinter die Tür gegangen bist
hinaus zum Garten
nur mal kurz nach hinten
an die frische Luft
für einen Moment zum Durchatmen
aber dahinter ist die Welt abgebrochen von dir
du machst vage Versuche wieder Form anzunehmen
teilchenweise die Wirklichkeit einzunehmen die vorher war
und du denkst wie froh du vorher hättest gewesen sein sollen
über all die Regeln des Lebens 
die einfach funktioniert haben
du willst deinen Geist einfangen
das letzte was im Moment noch vertraut ist 
aber er treibt ab von dir
die Welt hinter deiner Tür überfremdet dich
wieder hinein zu gehen ins Haus
und genau wieder an dem Punkt heraus zu kommen 
in dem Leben und der Welt von vorher
wäre der größtmögliche Zufall

und doch könnte es geschehen

(für alle denen das Leben aus den Fugen gerät)

.... Gott gibt sich in Deine Hände...

 Predigt über "Geistwasser"  im Universitätsgottesdienst der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Rahmen der Predigtreihe...