Samstag, 19. Juni 2021

Predigt vom Verlorensein und der Macht des Suchens

Vom Verlorensein


Ich bin nicht da wo die anderen sind

oder die anderen sind nicht hier

da wo ich gerade bin

hier liegt der Staub von Vergessenheit 

auf mir

es ist der Winkel

in den niemand schaut

wer schaut hin zu mir

gibt es jemanden?


Ich bin nicht da wo die anderen sind

oder die anderen sind nicht hier

da wo ich gerade bin

wie gut

der Rückzug tut 


einfach ohne die anderen sein

ohne Schmerz

ohne Ärger

wer interessiert sich für mich

gibt es jemanden?


Ich bin nicht da wo die anderen sind

oder die anderen sind nicht hier

da wo ich gerade bin

- ob ich ihnen fehle?


ich bin unvollständig 

in meinem Rückzug

in meiner Verlorenheit

ist keine Hand die mich aufhebt

und den Staub zur Seite schiebt?

die mich an sich drückt?

gibt es jemanden?



 


Lesung für heute sind die folgenden beiden Geschichten:
Die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Münze1 Immer wieder kamen viele Zolleinnehmer und andere verrufene Leute zu Jesus, um ihn zu hören.
2 Die Pharisäer und Schriftgelehrten ärgerten sich und schimpften: »Mit welchem Gesindel gibt der sich da ab! Er isst sogar mit ihnen!«
3 Da erzählte Jesus ihnen folgendes Gleichnis:
4 »Stellt euch vor, einer von euch hätte hundert Schafe und eins davon geht verloren, was wird er tun? Lässt er  nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück, um das verlorene Schaf so lange zu suchen, bis er es gefunden hat?
5 Wenn er es dann findet, nimmt er es voller Freude auf seine Schultern
6 und trägt es nach Hause. Dort angekommen ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen: ›Freut euch mit mir, ich habe mein verlorenes Schaf wiedergefunden!‹
7 Ich sage euch: So wird auch im Himmel Freude herrschen über einen Sünder, der zu Gott umkehrt – mehr als über neunundneunzig andere, die nach Gottes Willen leben und es deshalb gar nicht nötig haben, zu ihm umzukehren.
8 Oder nehmt ein anderes Beispiel: Eine Frau hat zehn Silbermünzen gespart. Eines Tages verliert sie eine davon. Sofort zündet sie eine Lampe an, stellt das ganze Haus auf den Kopf und sucht in allen Ecken.
9 Endlich findet sie die Münze. Sie ruft ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und erzählt: ›Ich habe mein verlorenes Geld wiedergefunden! Freut euch mit mir!‹
10 Genauso freuen sich auch die Engel Gottes, wenn ein einziger Sünder zu Gott umkehrt.«


 

Predigt:

Ich bin nicht da wo die anderen sind,

oder die anderen sind nicht hier,

da, wo ich gerade bin,

ist keine Hand die mich aufhebt

und den Staub zur Seite schiebt?

die mich an sich drückt?

gibt es jemanden?


- so fühlt sich Verlorenheit an!


Nicht auf der richtigen Seite.

Nicht im richtigen Team.

Nicht die richtigen Kleidung oder Hautfarbe 

oder Musik oder Sprache oder nicht der richtige Körperbau.

Nicht das richtige Geschlecht. Die korrekte Sexualität. 

Nicht die richtigen Argumente oder Interessen.

Nicht der richtige Zeitpunkt.

Aus irgendwelchen Gründen in Verlorenheit geraten.

Oder einfach nur niemanden an der Seite. Einsam.

Leere im Leben neben mir.

Einfach da hinein geglitten, ganz unbemerkt.

In ein Abseits geraten. 

Den Anschluss verloren.

Mich in Lügen verstrickt.

Den Sinn verloren. Die Kraft verloren.

Irgendwo selber verloren gegangen.

Im Leben oder in einer Angelegenheit, 

die nicht gut für mich läuft.


Ich bin wie ein alter Groschen,

der unten liegt und den niemand beachtet.

Nicht mal aus Ablehnung,

nein, aus Nachlässigkeit,

Unachtsamkeit, Flüchtigkeit, 

Unbeholfenheit, Geschäftigkeit.

In einem unbeobachteten Moment ist es einfach geschehen.

Bin ich abgestürzt, davon gekullert.

Verlorene finden immer die besten Verstecke.

Orte, Haltungen, Methoden 

- wo und wie man nicht auffällt.

Vielleicht auch wo niemand herankommt. 

Jedenfalls nicht einfach so.

Es müsste sich schon jemand wirklich Mühe geben.

Ich müsste jemandem fehlen.

Jemand müsste mich suchen wollen

und ein Licht anzünden und nicht nachlassen, 

Mich zu finden.

Verloren sein.

Abgeschnitten vom Leben.

Das sind keine krassen Persönlichkeiten weit weg von dir.

Das sind Leuten neben dir.

Manchmal du selbst.

Und so wie beschrieben 

oder noch ganz anders 

fühlt man sich, 

wenn man verloren ist.


Einmal  war ich verloren. Und hat mich jemand gefunden.

Ich war 19 Jahre alt.

Neu  in einem fremden Land, 

dessen Sprache ich damals noch wenig verstand.

Weit weg von Familie und Freunden.

Und hielt eines Abends einen Brief 

mit einem schwarzen Rand in den Händen.

Noch nie hatte ich einen Brief 

mit einem schwarzen Rand bekommen. 

Weißt du, wie viele Leute, 

dir da plötzlich durch den Kopf jagen?

Und wie du dich plötzlich durch eine Tür geschoben fühlst, die Tod heißt?

Der Brief kam von der Mutter eines Freundes.

Er hatte sich mit Mitte 20 das Leben genommen.

Ich weinte.

Ich war alleine. 

Total verloren. 

Aber es fand mich jemand. 

Fast sofort.

Eine Nachbarin klopfte.

Sie hatte das Weinen gehört.

Sie sprach meine Sprache.

Sie hielt mich fest.

Ich war gefunden, nicht mehr total verloren.

Das tat gut.

Ich war wieder vollständig.


Wenn du diese Bibelgeschichte heute hörst:

einer verliert ein einziges Schaf von 100…

und geht es suchten,

eine verliert eine Münze von vielen…

und dreht alles um, um die eine zu finden

- was denkst du, wer DU bist?


Bist du einer/eine von den neunundneunzig.

Also nicht verloren.

Wer ist dann verloren gegangen?

Wer ist ein Verlorener aus Deiner Sicht?

Kennst du welche, die verloren sind?

Und lohnt es sich, ihretwegen alles aufzuhalten und 

sich diesen Verlorenen hinzuwenden?

Hättest DU offene Arme für die Verlorenen, 

die du so kennst?


Oder bist du der/die Verlorene?

Hast irgendwie ein Gefühl, abgeschoben zu sein, 

nicht beachtet, nicht passend, nicht ausreichend?

Bräuchtest Du so sehr jemanden, 

der mit offenen Armen auf DICH zukommt?


Ich möchte Dir 1/2 min. Zeit geben 


- was denkst Du, wer in deinem Umfeld, wer hier in …, 

wer in unserem Land mag sich verloren fühlen?

Was für Menschen sind das, ganz konkret.


Stell sie dir vor.


(…)



Ich gebe dir nochmal Zeit:

- wann hast Du selbst dich einfach abgehängt gefühlt?

Weißt du das noch, wie das war?

Oder gibt es aktuell etwas, wo du ein wenig verloren bist,

oder sogar sehr?


(…)


Lass Dir sagen:

Gottes Kräfte suchen nach dem was Verloren ist.

Sie würden sich dafür selbst durch die Wüste schlagen.

Manchmal sucht niemand 

außer Gottes unsichtbarer Geistkraft,

manchmal kommen aber auch andere,

jemand von nebenan, eine zufällige Person, 

jemand, der dich liebt.

Knien sich hin, Schauen hin, Lassen nicht nach.

Es ist nicht egal, wenn jemand verloren geht!

Es ist nicht egal, 

wenn jemand sich wegen etwas verloren fühlt.

Gott ist es nicht egal.

Und dir kann es nicht egal sein.

Etwas, das fehlt macht das Ganze 

zu einem „Ganzen, dem was fehlt“.

Es ist kein Ganzes mehr.

Das Verlorenen prägt das Ganze.

Wen wir verloren geben, wen wir aufgeben,

bleibt als „verloren“ Teil unseres Lebens, unserer Welt.


Tatsächlich erzählt der Bibeltext gar nicht davon, 

wie man verloren gehen kann,

 sondern wie man gesucht wird. 

Wie man erwartet wird.

Er erzählt vom Wiederfinden. 

Von der Freude. 

Von der Kraft des Suchens. 

Von der Macht des nicht-verlorengebens. 

Auch davon,

dass es Gott egal ist, 

wie es dazu kam, dass du in dieser Lage bist

- oder andere.


In dieser Geschichte heute geht es um dich:

Als ein Mensch, der gesucht wird, 

falls er einmal  verloren ist.


Und als jemand

der selber die Macht des Findens hat. 

Du bist anderen und Gott nicht egal.

Lass auch dir andere nicht egal sein.


Die Bibel hat übrigens lauter Erinnerungsformeln, 

die wir sprechen sollen, um DAS nicht zu vergessen,

wie der 27. Psalm, den wir vorhin gesprochen haben:


Gott ist mein Licht und mein Heil, 

vor wem sollte ich mich fürchten. 

Gott ist meines Lebens Kraft,

vor wem sollte mir grauen. Amen.

Und die Liebe Gottes, und das Bild, 

wie er dich suchen würde, kehre ein in unsere Herzen und Sinne. Amen.



        (Foto: S. Freemind)


Samstag, 5. Juni 2021

Predigt vom Weglaufen

Predigt 

 über die Geschichte vom Propheten Jona, der einfach weglief, 
als Gott ihm einen Auftrag gab, der über das Meer flüchtete                                                                                                           
und im Bauch eines Walfische gerettet wurde. 


In Weglaufen bin ich gut.

Im Weglaufen bin ich ein Jona.

Unangenehme Dinge klären.

Der eigentlich angesagte Arzttermin.

Der Rückensport am Abend.

Der Anruf, der überfällig ist.

Das ehrliche, klärende Wort.

Die Ansage, die dran wäre.


Die Veränderung, die ich vor mir her schiebe.

Aufträge, die mir mein Glaube geben müsste:

für Gottes Gerechtigkeit kämpfen.

Sowas alles und viel mehr,

das schiebe ich gerne.

Tue so, als ob Ichs nicht sehe.

Zufällig vergesse.

Zu beschäftigt bin.

Ich laufe weg.


Klar. 

Von außen da sehe ich, da sehen wir alle, 

gut organisiert aus.

Gut aufgestellt.

Die anderen denken immer: 

wow, wie schafft der andere das nur?

Ich bin wohl die einzige Wegläuferin hier weit und breit?

Niemand sonst läuft vor solchen Dingen fort.

Alle andern erledigen die Sachen gleich,

Alle anderen stellen sich jedem Berg und Gipfel.

Alle anderen ziehen durch.


Tatsächlich aber, glaube ich,

sind wir eine Gemeinschaft von Jona-Menschen.

Die meisten.

Es gibt tatsächlich Ausnahmen.

Es gibt einige, die können nicht mehr aufhören mit weglaufen. 

Da wird das Weglaufen, Ausweichen, Umgehen, Nichttun, 

Nichtzukönnenmeinen zur Krankheit.

Es gibt einige, die drücken alles weg. 

Die sollten öfter mal weglaufen und nicht immer aushalten.

Aber der allgemeine Jona-Mensch,

der läuft mindestens einmal am Tag - schlups - 

einer Sache davon, die er oder sie auch erledigen könnte.

Theoretisch.


Weglaufen ist einer der menschlichen Stressreflexe.

Manchmal kämpfen wir auch.

Manchmal erstarren wir.

Aber Weglaufen ist unser Schutz.

Er ist nur gehäuft ein ebenso ungesundes Ding 

wie zu viel Zucker. 

Von dem wir wissen, dass er in Massen nicht gut tut.

Und trotzdem knistern die feinen Tüten 

im Süßigkeitenfach…

Genauso ist stetes Weglaufen ungesund, 

denn es ändert nur selten etwas an dem, was dran wäre,

oder?


Jona ist vermutlich nicht zum ersten Mal weg gelaufen.

Witzigerweise wusste das Gott natürlich auch. 

Er kannte ihn ja in- und auswendig.

Jona hat gedacht,

Gott bekommt es nicht mit.

Der hat ja immer so viel auf der ToDo Liste,

bei so vielen Menschen auf der Welt.

Jona denkt, dann, als es zu spät ist:

Gott hasst es, wenn jemand wegläuft. 

Also vermutlich auch mich.


Aber weißt du,

Jona stellt schließlich fest,

dass Weglaufen manchmal gerade Gottes Plan ist.

Das wissen wir nur nicht.

Gottes Nähe hört nämlich nicht auf, 

wenn wir vor etwas ausweichen und es vermeiden, umschiffen, aufschieben.

Gottes Nähe ist ein Schiff und rettende Höhle,

wenn alles schlimmer kommt als erwartet.

Da wo wir vermeintlich weglaufen

ist Gott dabei,

als wäre auch das sein Weg mit uns.

Wo wir das Weite suchen, 

die Wahrheit meiden,

den herannahenden Sturm ignorieren,

die Not geflissentlich übersehen,

entfernen wir uns nicht von Gott.


Tatsächlich ist Gott ohnmächtig

gegenüber unserem Nichthandeln

- in dem Sinne, dass er die Realität nicht andersherum zaubern kann, 

einfach eben ohne unser Tun.

Tatsächlich ist Gott oft ohnmächtig aber bleibt einfach da.

Jedes Ausweichen bringt uns nicht weiter von Gott weg.

DAS ist die Allmacht Gottes.

Die Macht seiner/ihrer Liebe.

Gott ist der Hafen der Flucht und der Wiederkehr,

ist an Bord in Sturm und im Dümpeln ohne Orientierung,

ist mit uns auf See bis an den Rand, 

wo es nicht weitergeht.

An den Rändern des Lebens liegen wir 

in den Mantelfalten seiner Zuwendung.

In Flucht und Einsamkeit

umgibt uns letztendlich das Bauchfell seiner Gnade.

Und so oft ist genau das der Weg,

 den wir brauchten, 

um dann doch ein klärendes Wort zu sagen 

und eine Entscheidung hinter uns zu bringen.


Gott sagt:

„Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht!“

Das gilt

meines Wissen

immer.

Amen.


Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, 

der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß 

und stärke unsre Liebe. Amen.







        (Foto: Blog von I. Garciá)

.... Gott gibt sich in Deine Hände...

 Predigt über "Geistwasser"  im Universitätsgottesdienst der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Rahmen der Predigtreihe...