Sonntag, 18. April 2021

Ich hab eine Herde....

 Predigt für den 18. April 2021



Sie stehen eng bei eng. Kaum zu unterscheiden. Es raschelt. Ihre Körper verbreiten Wärme. Es ist eine wabernde Menge aus Köpfen und Hufen, aus Augen und grauweißem Flies. Hunderte sind es. Scheinbar ruhig. Gott sei dank ist das meistens so. Sie stehen. Kauen. Schauen. Traben. Schnuppern. Schuppern. Drängen sich zusammen. Ganz in der Mitte stehen tiefenentspannt die glücklichen Bilder aus meiner Kindheit. Mit dickem Pelz. Sie kauen und kauen die alten Szenen und Gefühle wohlig wieder. Umarmungen von den Großeltern. Gehaltensein von Mutter und Vater. Getragensein. Schaukeln. Gestreichelt werden. Gelobt werden. Kichern. Auf dem Schoß sitzen. Ein Zauber liegt auf ihnen. Sie schaukeln vertraut und beruhigend mit ihre dicken Körpern hin und her. Inmitten von mir. Ich bin froh, dass ich sie habe. Dazwischen stehen aber auch so ein paar schwarze Schafe mit spitzen Hörnern und fiesen Hufen: Ereignisse, die mich irgendwann sehr verletzt haben. Sie gehören auch zu meiner Herde. Sie haben die blöde Angewohnheit mit ihren spitzen Hörnern immer wieder mal zuzustechen oder mit den Hufen zu treten. Und dann höre ich wieder das gehässige Lachen von damals und fühle die verletzende Worte von einst, als wären sie heute. Da leben sie. In mir. Die weißen und ein paar schwarze. Kräftige, Schwächliche. Mickrige. Schwere. Mutige. Sanfte. Vorwitzige. Leitschafe und Angstschafe. Da stehen sie alle zusammen. Kauend. Schauend. Aufmerksam. Es sind alle meine Erinnerungen, meine Ängste. Meine Erfolge. Meine Schwächen. Meine Glücksmomente. Dicke wollige Erfahrungsschafe, schwer und behäbig, die manchmal misstrauisch auf die Jungschafe schauen. Neuen Erfahrungen begegnen sie mit Wohligkeitsgrusel. Halb Neugier - halb Schrecken. Grundsätzlich lieber mag meine innere Herde es, wenn alles so bleibt. Wenn alles ruhig läuft. Wenn es keine Überraschungen gibt. Verlässlichkeit. Regelmäßigkeit. Das mögen die alten Schafe. Eigentlich mögen sie es alle. Denn sie sind fürchterlich schreckhaft. Wenn nur eines zuckt, zucken alle, wenn eines rennt, rennen alle mit. Zumindest ein kleines Stückchen. Einen Schrecksprung weit. Dann erst schauen sie. Das ist mein Zurückschrecken, wenn Neues kommt. Das ist der Reflex der Flucht, wenn Unbekanntes und Übergroßes auf mich zu kommt. Zack und weg. Hin zu Herde, zu dem Vertrauten. Kauen, Stehen. Glotzen. Nicht zu viel bewegen bitte. Kleine Schritte. Kein Stress. Das ist ungesund für die Verdauung. Denn all das, was in meinem Leben passiert, ist das Gras, das sie fressen, es muss durch sie hindurch. Stress in der Verdauung bekommt ihnen nicht. Unverdaute Erlebnisse liegen mir schwer im Magen. Und dennoch: Stillstand mögen sie nun auch wieder nicht. Bewegung ist ihre Natur. Sie haben eine naturgegebene Neugier - darauf wo es was zu finden gibt. Zu Futtern. Weitergehen. Der nächste Halm. Kauen. Glotzen. Essen. Weiter gehen. Alles beobachten. 


Diese Herde braucht lebenslang meine Aufmerksamkeit. Meine Sorge. Meine Fürsorge. Meine Hege. Immer wieder muss irgendwo die Wolle runter. Alter Filz der Gedanken und Abgetragenes. Sonst erdrückt es meine Seele. Und man findet sich gar nicht mehr durch. Am schlimmsten ist alter Filz. Der lässt sich kaum mehr trennen. Ablegen, loslassen, zurücklassen gehört zum Leben dazu. Weitergehen. Und einmal im Jahr mindestens die Klauen schneiden und das Kranke behandeln. Sehen, wo es lahmt und sich krümmt. So muss man eine Herde pflegen. So muss ich mich pflegen. Die  Herde in mir, die auf 1,69 m wohnt. Es ist meine Herde. Sie zieht mit mir von Weide zu Weide. Von Tag zu Tag. Braucht ständig neues Futter. Braucht frisches Wasser. Braucht Ruhezeiten. Zeiten zum Wiederkäuen und Verdauen. Braucht Vertrautes. Manche verlassen die Herde. Manche kommen dazu. Fällt ein Wolf in die Herde, wird es schlimm: gibt es Unglück und Angst, Bitternis und Krankheit, dann nimmt meine Herde Schaden. 

Wie sollte ich diese ganze Herde alleine hüten? 

Meine Grenzen. Meine Mitte. Die Ausreißer. Die Ungesehenen?


Der Eine spricht zu mir: 

„Du sollst meine Herde sein, die Herde meiner Weide.

Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. Ich selbst will meine Schafe weiden.

Ich will sie auf die beste Weide führen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will mich deiner Herde selbst annehmen.

So wahr ich lebe, spricht Gott.“


Gott, du Hirte meiner Seele. Du Hüterin meines Lebens.

Ich kenne dich. Deine Stimme in meinem Leben. 

Du bist rundherum um meine kleine innere Herde. 

Du zeigst mir die schönen Weideplätze und lässt mich ruhig bleiben im dunklen Stall. Du gehst mit mir durch Winter- und Sommerzeiten. Herbst, Vergehen, Frühling, Aufbrüche. 


Und darum stehen meine Schafe weise kauend da zusammen. Das dicke Mutschaf schuppert beruhigend seitlich an der Angst. Das hopsende Schaf meiner durchgehenden Nerven findet sich am Ende wieder gut orientiert neben dem hellen, dem nie die Wolle dunkel wird. Sie stehen da zusammen. Und tatsächlich können sie auch hopsen. Wirklich. Wie eine wildgewordene Rock´n Roll-Band können sie mit allen Vieren ausgelassen in die Lüfte springen, Haken schlagen, vor Fröhlichkeit regelrecht ausrasten. Dann kommt ein tiefes Lachen in mir auf oder ein Glücksflattern in meine Bauch. Und tatsächlich können sie sich manchmal bockig zusammenstellen wie ein Einziges und ich finde mich nicht mehr in mir selbst zurecht. Doch ich weiß, der Hüter ist irgendwo da. Und tatsächlich gibt es so vorwitzige Gestalten, die immer als erstes herlaufen oder die immer an vorderster Front den anderen die Bissen wegschnappen. Meine Schwächen und meine immer gleichen Fallen, in die ich tappe, mein vorlauter Mund und mein vorschnelles Urteilen, meine Blitzreaktionen und meine Schlagfertigkeit. Mein guter Hirte steht am Rande. Und sie kriegen sich wieder ein. Es kann aber auch vorkommen, dass ich Rotz- und Wasser heulend nach ihm suche. Das kann vorkommen. Vielleicht sucht er dann gerade das Verlorene in mir. 


Gott, du bist mein Hirte. Die gute Hüterin meines Lebens. 

Mehr kann ich nicht sagen. Das ist: Alles. Amen.


Und Gott, Hirte und Hüterin, ziehe ein zu Deinen Ängsten und Freuden, und Deinen Erinnerungen und Vorhaben. Gott halte deinen Verstand wach und deine Hoffnung groß und stärke deine Liebe. Amen. 


Samstag, 3. April 2021

 Von falscher Fürsorge. Für alle die wir in die Wüste schicken.

Gute Besserung und ich solle mich erstmal erholen, schreibt die Redakteurin freundlich. Sie hätten jetzt schnell jemanden anderen für die zwei Texte gesucht. Vor Monaten hatte ich diese beiden Texte zugesagt. Nicht ahnend, dass sich ein LongCovid wie ein Stein an meine Beine und Hände hängen und mein Denken langsam machen würde. Ich hatte mich dennoch entschieden, meine wenige Kraft dafür zu investieren. Hatte getan, was man tut, wenn man Texte vorbereitet: Gedanken notiert, recherchiert, Ideen gesammelt. Den ersten Text gab ich rechtzeitig drei Tag vor Ablauf der Frist ab. Dazu schrieb ich - wie so oft in letzter Zeit - die Bitte, den Text nochmal auf Fehler zu überprüfen, weil eine Langzeiterkrankung meine Konzentration schwächt. Ich verabredete mich mit jemanden zu einem Gespräch für den zweiten Text und bereitete ihn vor. Wertvolle Zeit von meiner Zeit und wertvolle Kraft von meiner im Moment kleinen Kraft - weil mir diese Texte wichtig waren. Dann kam die Antwort der Redaktion. „Gute Besserung“, „…wir haben doch mal jemand anderen gefragt“… „sie sind ja krank“… Sicher, wie sich heraus stellte, stimmte die Textlänge nicht ganz, aber das hätte ich schnell beheben können. Würde man nicht sonst erstmal die Autorin darauf aufmerksam machen und ihr die Gelegenheit geben, das zu korrigieren, zumal wenn dafür noch Zeit ist? Ich hatte schließlich ausdrücklich dazu aufgefordert. Was vielleicht fürsorglich gemeint war, schlug mir hässlich ins Gesicht. Ich wurde einfach ausgetauscht. Ich hatte nicht funktioniert wie geplant. Und ich denke: ja, so machen wir das immerzu. Ich nehme mich da nicht heraus. Wir nehmen, denen, die nicht so ganz funktionieren, die Dinge gerne einfach aus der Hand. Das ist weniger anstrengend für uns. Wir beenden den Satz dessen, der stammelt. Wir schieben die Rollstuhlfahrer irgendwohin ohne zu fragen. Wir komplimentieren den psychisch kranken Kollegen nach nach Hause, um nicht mit Tränen konfrontiert zu werden. Wir schicken sie einfach in die Wüste. Was für eine Kraft müssen all jene aufbringen, um das täglich hinzunehmen. Heute, an Karsamstag, möchte ich für alle beten, die wir permanent in die Wüste schicken aufgrund irgendeiner vermeintlichen Nichtfunktion. Weil sie nicht in unser perfektes Uhrwerk passen. Wir halten das für Fürsorge. Aber in Wahrheit schicken wir sie in die Wüste. Und sie selber müssen die Kraft aufbringen, dort immer wieder hinaus zu kommen.


 

Herr, erbarme dich. Lass Wüstenwege für sie blühen. Amen.


 


.... Gott gibt sich in Deine Hände...

 Predigt über "Geistwasser"  im Universitätsgottesdienst der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Rahmen der Predigtreihe...