Montag, 23. September 2019

Gewisse Leute


„Tja“, sagt sie und lässt sich auf den Stuhl in der Sakristei fallen. Oha, denke ich. Wenn sich die Friedi setzt, dann hat sie etwas zu sagen und setze mich ihr gegenüber auf die alte Holzkiste mit den Altardecken. Sonst nämlich rennt Friedi umher. Zählt Kollekte, pustet Kerzen aus und verpackt die Blumen wieder zum Mitnehmen. Aber heute nicht. Schwer lässt sie sich auf den Stuhl sacken nach dieser Trauerfeier. „Wie bei mir.“, sagt sie und schluckt. Und endlich muss sie das erzählen, das ihr schon seit drei Jahren auf der Zunge liegt. Ich stelle meine Tasche wieder ab und schaue sie an. „Was die mit uns gemacht haben!“, sagt sie. DDR Geschichten, die wieder wach werden, wenn man von den alten Zeiten hört. Wie eben, in der Trauerfeier.  Da war sie mitten in ihrem eigenen alten Film. Ein fröhliches Paar ist auf diesem Farbfilm zu sehen. Vater, Mutter, Kind. So wie es sein soll. Ja, schwere Arbeit auf dem Land. Ja, enge Wohnverhältnisse. Ja, alles das. Aber auf ihrem Film sind lachende Menschen, die sich in den Arm nehmen. In den Arm nimmt sie nun schon lange keiner mehr so richtig. Es ist als hafteten an ihr all die Kanten ihrer schweren Geschichte, die jegliche Nähe unmöglich machen. Anton hatte sie geheiratet weil sie sich mochten. Dass er schwer herzkrank war, das erfuhren sie erst später. Und dann kommen die schwarz-weißen Teile ihres ganz privaten Films: dass niemand helfen konnte. Der Anton mit den blauen Lippen. In der Stadt gab es eine Apotheke mit Medikamenten, die helfen konnten. Es gab auch in der Kreisstadt ein gutes Krankenhaus. Aber dort waren nur die „Bonzen“ zugelassen, die „hohen Tiere“, die „Kader“. Ja, das war bitter. Anton hatte kein Parteibuch und er hatte seine Tochter nicht zur Jugendweihe gehen lassen. Er war der Arbeit im Stall fern geblieben, zu der man ihn gehässig eingeteilt hatte und war stattdessen zur Konfirmation in die Kirche gegangen. Er gehörte nun zu den „gewissen Leuten“, die die Konsequenzen zu spüren bekamen. Wie sie es ihm angedroht hatten. Den OP-Termin verweigerten sie ihm. Viel zu spät kam er ins Krankenhaus und starb mit 36 Jahren. Einen Tag nach der rettenden Herz-OP. Wie bitter für Friedi. Aber das war noch nicht das Ende der Geschichte. Das war noch lange nicht alles. Es gibt noch einen zweiten Film. Auch er beginnt in bunt. Denn das Leben schenkt ihr einen neuen Gefährten: Hans. Genauso einen aufrechten Ungebrochenen. So wie sie. Einer ohne Parteibuch. Einer, der zur Kirche ging. Einer, der sich nicht zwingen ließ. Aber das würde er noch bereuen. "Gewisse Leute“ ließ man spüren, dass sie auf der falschen Seite waren. Als der Winter kam, war der neue Stall im Dorf erst fast fertig. Es fehlten noch Fenster und Türen. Stattdessen waren dort nur leere Öffnungen. Es war zugig. Eisig kalt. Hans wurde in diesen halbfertigen Stall geschickt. Nach wenigen Wochen wurde er ständig krank. Sich krankschreiben zu lassen brauchte er nicht zu versuchen. Sie steckten alle unter einer Decke. Er solle gefälligst dem Sozialismus dienen. Und so ging er immer wieder an die Arbeit. Bis er so krank wurde, dass es nicht mehr ging. Er hatte schließlich einen dauerhaften Nierenschaden davon getragen. Keine Arbeit in der Kälte mehr oder in der Nässe, schrieb der Arzt. Sie schickten ihn in den Straßenbau. Es dauerte nicht lange, da war er an der Dialyse. Sie hatten ihn klein gekriegt. Der alte Dorfarzt kämpfte darum, dass er aus der Apotheke der „Bonzen“ die nötigen Medikamente bekam. Ein Glück für ihn. Sie hätten sie ihm nicht gegeben. Dann kam endlich 1989. Alles würde ein Ende haben. Bald. So hofften sie. „Die da Oben“ würden endlich abgesägt. Aber noch zogen sie ihre Stricken. Dezember 1989. Der DDR gingen die Ersatzteile für die Dialyse aus. Pech gehabt. Als Friedi nachts wach wird, liegt Hans schwer atmend im Bett. Sie ruft den Notarzt. Als er zwei Stunden später kommt, ist Hans längst tot. An ihm hätte es nicht gelegen, er wäre in 20 Minute da gewesen, sagte der Fahrer ihr leise in der Küche. Es tat ihm wirklich leid. Viel später habe sie von dieser Anordnung erfahren. Dass der ein oder andere Notarzt bei „gewissen Leuten“ nicht zu schnell zu kommen solle, wenn sie ihn riefen. diese Anordnung hatte leider im Dezember 1989 noch niemand aufgehoben. Da zogen sie noch ihre Stricke. „Wenn gewisse Leute aus der Reihe tanzen… Wenn gewisse Leute sich nicht einfügen können… - so haben sie sehr oft zu mir gesagt. Aber ich hatte eine Antwort!“, sagt sie. „Gewisse Leute?“, habe ich gesagt, „Ja. das sind wir. Wir sind gewisse Leute: denn „ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Das habe ich gesagt. Sagt Friedi. Die Aufrechte. Davon weiß bloß keiner. 



Samstag, 21. September 2019

Predigt von Leitern und Gottestüren
für den 22. September 2019


Predigttext: 1. Mose 28, 10ff:

Jakob schaut die Himmelsleiter

10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran 
11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. 
12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 
13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 
14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. 
15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! 
17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. 
18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf 
19 und nannte die Stätte Bethel; vorher aber hieß die Stadt Lus. 
20 Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wird Gott mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen 
21 und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der HERR mein Gott sein.
22 Und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Steinmal, soll ein Gotteshaus werden; und von allem, was du mir gibst, will ich dir den Zehnten geben.





Kein Zelt mehr.
Keine Familie.
Kein Mensch weit und breit.
Niemand.
Nur die Wüste.

Ein Mann der alles hat.
Der alles bekommt.
Güter. Leben. Gesundheit. Heimat. Liebe.
Er begeht einen Verrat. 
Er belügt seinen Vater und seinen Bruder.
Er lässt sich anstiften zum Unrecht.
Er betrügt seine Familie.
Er muss fliehen.
Die Mutter, die ihn mit allem versorgt hat,
die lässt ihn natürlich auch hier nicht ohne etwas ziehen.
Er hat das, was er tragen kann, bei sich.
Nur: all seine Güter und die Heimat und die Liebe, 
die muss er zurück lassen.
Mitnehmen kann er nur: sein Leben und seine Gesundheit.
Aber ohne Garantien. Ohne Sicherheiten.
Er hat im Rücken einen wütenden Bruder,
der zu allem bereit ist.
Im Gesicht hat er nur Unbekanntes.
Mitnehmen muss er auch: sein Gewissen.

Er läuft bis es nicht mehr weiter geht.
Vielleicht könnte er sich eine weiche Mulde suchen 
zum schlafen oder einen trockenen Strauch,
einen großen Stein, an den er sich legen kann.
Vielleicht könnte er auch seinen Mantel nehmen 
oder seine Tasche um seinen Kopf darauf zu betten.
Er nimmt einen Stein.
Einen harten Stein.
Vielleicht will er das so.
So hart ist sein Leben gerade.
Vielleicht fühlt sich diese Härte gerade im Moment richtig an.
Es tut jetzt weh. 
Selbst in der Ruhe.
Gemütlich ist da in meiner Phantasie nichts.
Jakob kuschelt sich nicht auf den Boden.
Er liegt schutzlos da. 
Er ist ausgesetzt dem, was um ihn herum ist und in ihm ist.
Er hat sich von allem, was ihm lieb ist, weit entfernt.
Hier ist ihm alles fremd. Er wird ein Fremder.
Er ist erschöpft und am Ende angekommen.
Es ist dunkel um ihn.
Er schläft ein.
Den Kopf auf einem Stein.
Und nun erscheint in dieser Geschichte 
das eigentlich unwahrscheinlichste Zeichen, das 
in dieser Nacht 
in einer Wüste 
bei diesem geflüchteten Mann 
am Ende seiner Kräfte 
auftauchen könnte. 
Es könnte ein Tier sein. Ein Wind. Eine Person. Eine Speise. 
Ein Weg. Ein Stern. Eine Erinnerung. 
Aber es ist:
eine Leiter.
Eine Leiter im Nichts.
Und ein Tor.
Ein Tor im Nichts.

Mitten da
ist Gott.

Es ist eine Geschichte darüber, 
wo Gott ist.

Nicht etwa wird die Geschichte 
des blinden alternden Vaters Isaak weiter erzählt.
Nicht etwa wird die Geschichte 
der verzweifelten Mutter Rebekka weiter erzählt, 
die ihren Lieblinsgsohn weg schicken muss 
und nie wieder sehen wird.
Nicht etwa wird die Geschichte des komplett betrogenen  
Bruders erzählt, des Verlierers , die Geschichte von Esau. 
Nicht wird erzählt, wie Gott bei diesen daheim zurück gebliebenen  Menschen ist. Es sind Menschen, bei denen wir Gott - sicher zu Recht und nicht sehr überrascht - vermuten. 
Hier wird ausgerechnet die Geschichte eines Betrügers erzählt.
Und wie Gott bei ihm ist,
bei ihm, Jakob, den - ausgerechnet - Gott erwählt hat.

Wieso ist Gott mit ihm?
Wieso war Gott nicht in meiner Gesundheit, sondern in meiner Krankheit? - fragt mich eine Frau diese Woche am Krankenbett.
Wo ist dieser Gott und was ist seine Logik? - fragt mich dieser Tage ein Jugendlicher, der sein Leben im Moment und schon viel länger als unerträglich empfindet.

Was ist die Gotteslogik?
Gottes Logik ist nicht so einfach.
Keine klaren Summen.
Keine logischen Ergebnisse.
Vielleicht ist es auch gar keine Art von Logik.
Sie ist anders.

Sie ist von einer ganz anderen Gerechtigkeit, 
die wir nicht fassen können.
Es scheint nicht vorhersehbar, wo Gott plötzlich da ist.

Er stellt Leitern an Mauern in Ostberlin.
Er stellt Portale der Menschenwürde 
an Bahnhöfe mit Flüchtlingszügen. 
Er stellt Zelte zum Aufatmen in eine tödliche Krankheit.
Er öffnet Tore zum Zuhören zwischen Menschen, 
die sich politisch voneinander entfernt haben.
Gottes Leitern und Tore stehen an den unwirtlichsten Orten.
Gott braucht diese Leitern und Tore nicht. Wir brauchen sie.
Und die Geschichte sagt:
Trau dich ruhig an diese unwirtlichen Orte!
Es ist möglich bis ans Ende zu gehen.
Es kann ungemütlich werden.
Du könntest eine Leiter brauchen und sie könnte erst kommen, 
wenn du sie nicht mehr erhoffst.
Aber Gott wird da sein
da inmitten.

Jakob ist in der Nacht.
In der Finsternis.
Es ist kalt. 
Er ist ohne Familie.
Ohne Menschen.
Ohne Zelt.
Aber im Haus Gottes.
An dieser leeren Stelle seines Lebens
öffnet sich ein Portal 
zu Gott. Ausgerechnet.

Auf unserer Suche nach Heimat
und einem gemeinsamen Zelt
in dieser Welt, 
in unserem Land,
in dem alle Platz hätten,
wird Gott aber nicht nur mit den Verzweifelten sein,
sondern auch mit den Verzweiflern,
ist Gott nicht nur mit den Betrogenen,
auch mit den Betrügern.
Und wir könnten es auch sein.
Das ist Gottes Logik.
Er ist nicht der plötzlich Unerwartete
sondern der immer Erwartbare.
Er ist eben nicht nur in den Selbstverständlichkeiten
und den warmen Kissen.
Er ist auch in den Steinen.

Er stellt Portale und Leitern des Himmels  in unsere Wüsten
nur um uns zu sagen:
Ich bin dein Gott.
Ich bleibe bei dir.
Schau, wohin dich das führt.

Wow.
Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß und stärke unsre Liebe. Amen




Samstag, 14. September 2019

Ich war eine Hundertprozentige.
Das war ich.
Ich war hundert Prozent für den Sozialismus.
Also, dass alle Menschen gleich sein sollen und so.
So hatte man mir das erklärt.
Und ich gehörte zu denen, die mit Begeisterung
zur Demonstration gingen.
Mit einem Fähnchen in der Hand.
Manchmal sogar mit mehreren.
Die fröhlich im Marschschritt gingen,
begeistert winkend.
Überzeugt dass dies was Gutes ist.
Und ich wusste, dass man dazu die rechte Faust heben konnte
und laut „Rot Front“ rufen.
Ich war eine Hundertprozentige,
du kannst mich heute in der Nacht wecken
und zum Beispiel singen:
„Ich trage eine Fahne…“
und ich würde wie aus der Pistole geschossen  
antworten:
„und diese Fahne ist rot.
Es ist die Arbeiterfahne,
die Vater trug in der Not.
Die Fahne ist niemals gefallen,
sooft auch ihr Träger fiel,
sie weht heute über uns allen
und kennt schon der Sehnsucht Ziel.“
Du findest das Lied heute bei YouTube
unter „DDR-Kinderlieder“.
Ich war hundert Prozent dabei.
Ich wusste, was ein Klassenfeind ist.
Und konnte den Namen Wladimir Iljitsch Lenin aussprechen.
Das alles hatte man mir beigebracht.
Ich war eine Hundertprozentige,
und ich war fünf…
Fünf Jahre alt.
Fünf Jahre alt!
Fünf Jahre alt!!! 



Freitag, 6. September 2019

#loveyourselfie

Gott hat dich gemacht
Gott selbst
himself
Als er wollte dass die Menschlichkeit
und die Liebe 
und die Weisheit
und auch Schönheit
auf die Erde kommt,
hat er dich gemacht
zu seinem Bilde
In dem Moment 
als du zu Welt kamst
hat Gott eine selfie gemacht
Er schaut es sehr gerne an
liebevoll 
er möchte nichts verändern an deinem Körper
an deiner Art
auch wenn du manches 
gerne bearbeiten würdest an diesem selfie
„Es ist nicht leicht, sich schön finden zu lassen, 
wenn man sich gut kennt“ (F.Steffensky)
Aber eines ist sicher:
immer dann wenn du es nicht kannst
und wenn du dich unansehnlich findest,
findet er dich schön
Und dieser Blick ist es
der dich ohne Grenzen und ohne Ende liebt
anerkennt
schätzt
der dich möchte
genau so wie du bist
dieser blick 
der kann dich stark machen
unabhängig
frei
offen 
nachsichtig
gütig
Es gibt nichts Größeres
das dich im Leben Stärken könnte. 

Amen.


.... Gott gibt sich in Deine Hände...

 Predigt über "Geistwasser"  im Universitätsgottesdienst der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Rahmen der Predigtreihe...