Donnerstag, 4. Februar 2021

 Coronastation, 14 Uhr. 




Ich will nicht mehr leben, sagt sie.

Mein Leben ist doch zu nichts mehr nütze.

Der Krebs plagt sie und nun auch noch Corona.

Ich möchte sterben, bitte, sagt sie.

Jetzt.

Ich möchte nicht mehr.

Andere sterben doch auch daran.

Ich bin 98. Ich habe genug

Ich will nicht mehr.

Ich brauche kein Leben mehr.

Ich gebe ihnen mein Herz, meine Nieren, die Lunge.

Was auch immer Sie wollen,

Sie können alles haben.

Und wenn mein Herz nicht mehr  da ist, 

dann ist mein Leben endlich zu Ende.

Es geht nicht so, sage ich

Was ist das für ein blödes Gesetz, sagt sie.

Ich will nicht mehr leben.

Helfen Sie mir doch bitte.

Das geht nicht, sage ich.

Ich will das nicht mehr, sagt sie

und übergibt sich.

Sie atmet schwer.

Vielleicht sage ich. Nimmt Gott Sie jetzt mit.

Aber vielleicht auch nicht.

Ich weiß es nicht.

Ich will kein Leid mehr, sagt sie.

Ich will nicht mehr.

Mein Hand liegt auf ihrer Schulter.

Drückt ihre Hand.

Streicht die Decke glatt.

Gibt ihr ein Taschentuch als sie darum bittet.



Keine einsfünfzig Abstand.

Das Wort Mindestabstand macht hier keinen Sinn.

Abstand macht keinen Sinn.

Ich stehe dicht bei ihr,

meine Hand liegt auf ihrer Schulter.



Die Frau daneben nickt.

Ich schaue von Fußende auf sie.

Ich nicht, sagt sie.

Ich will nicht sterben.

Sie hatte eine schwere OP und ist 20 Jahre jünger als die Frau daneben.

Sie müssen sich eine Menge anhören hier, sage ich.

Sie nickt. Aber das macht mich stark sagt sie.

Denn jetzt weiß ich, dass ich leben will.

Dass nun auch noch Corona dazu kommen musste.

Ich bin so schwach, sagt sie.

Ich kann kaum aufstehen.

Meine Wunden heilen nicht.

Aber ich will das schaffen, sagt sie.

Ich nicke und halte beiden Daumen gedrückt hoch.

Ich drücke die Daumen, sage ich, alle beide.



Gegenüber liegt einer zusammengerollt im Bett.

Ich kenne ihn schon länger.

Ich rufe seinen Vornamen.

Seine Hände greifen nach meinen Gummihandschuhänden.

Er hält die Hand fest. Legt sein Gesicht hinein.

Er lächelt das beste Lächeln der Welt,

das nur Down-Syndrom-Menschen beherrschen.

Er ist ein großes Kind mit Falten und dem schönsten Lächeln der Welt.

Sein ganzes Gesicht faltet sich in ein großes Strahlen. Schon wieder.

Ist es schön, frage ich.

Ist schön, sagt er. 

Meine andere Hand streichelt seinen Rücken.

Er hält die Hand fest,

kuschelt sich hinein mit seinen 60 Jahren.

Er schließt die Augen,

fährt hoch aus seinem Fieber, 

sieht meine Hand.

Schmiegt sich hinein. 

Lächelt.

So stehe ich. 

Lange.


Ohne Abstand. 






.... Gott gibt sich in Deine Hände...

 Predigt über "Geistwasser"  im Universitätsgottesdienst der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Rahmen der Predigtreihe...