Donnerstag, 31. August 2017

Dieser Text entstand bei einem Workshop in Lutherstadt Wittenberg.
Wir waren an 3 Tagen im Gefängnis in der Ausstellung "Avantgarde".
Im Gespräch mit den Kunstwerken sind tolle Texte entstanden.

Stell Euch einen langen rechteckigen Raum vor.
Gitterfenster. Tiefe Decke. Bröckelnder Putz.
Überall sind Exponate aus Holz und Metall,
die Menschen einklemmen, festklemmen,
umbiegen, geradebiegen, verbiegen können.
Bilder sind an den Wänden, 
Photos von Kindern wie aus einem Lehrbuch der 60er Jahre.
Schwarz weiß.
Und über diese Kinder sind Raster gemalt, in die sie nicht passen.
Anpassung.
Verbiegen.
Das schreit von den Wänden.
In der Mitte steht eine große alte Druckerpresse.
zwei lange weiße  Papierbahnen fließen aus
den Walzen und über einen langen Tisch.
SIE sind leer.



I
(Im Gang zu lesen vor Objekt 45)


Es gab einen Vorfall 
sagt der junge Mann 
vom Freiwilligendienst 
mit geschwollenen Augen
und vielleicht gehört es gar nicht hierher
denkt er zugleich
aber das Herz ist übervoll
die Kollegin sei tödlich verunglückt
und er sagt es
als wolle er uns trösten
weil es sich so schrecklich anhört
Wir schauen uns alle tapfer an

Im Gehen denke ich
Soll ich dich fragen
ob dich heute schon jemand in den Arm nahm’?
Ich tat´s nicht.

Der Mann vom Sicherheitsdienst
kommt mir im Flur 4 entgegen
Ich hab was Neues
strahlt er
Gestern hatte er mir erzählt
wie so eine Bewacherarbeit ist
für einen
manchmal 12 Stunden stehen
kaum ein Klo, kaum Trinken können

keiner Aufmerksamkeit wert
ein Inventarstück 
nicht von Interesse
und dass er kein Leben mehr hätte
und eine kranke Frau
und ich hörte zu
und wünschte ihm Gutes
Und gestern Abend 
sagt er fassungslos
riefen sie mich an
Ich habe eine neue Arbeit fast vor der Haustür bei mir
Die Augen leuchten Würde-voll

Im Gehen denke ich
Soll ich dich fragen
ob dich heute schon jemand in den Arm nahm’?
Ich tat´s nicht.

Dann stehe ich 
an den Foltergeräten

Gefangensein wallt auf
Verlassenensein
Versuche meine Würde zu brechen
Ich hasse all das Verbiegen
Ich will
die Welt in den Arm nehmen
und irgendjemand
soll das bitte 
mit mir tun

II
(In der Installation zu lesen nach einer Stille)


Sie ist vier.
Die Decke auf ihr ist schwer.
Es ist dunkel.
Das Zimmer wächst schmal nach oben.
Sie ist sehr alleine darin.
Sie weint.
Mit den Händen kann sie sie fühlen:
lange harte kalte Beinschienen
mit knarrenden hellbraunen Lederriemen,
die fest angezogen sind.
So sollen ihre X-Beine gerade werden.
Durch gerade-biegen.
Manchmal kommt eine Schwester.
Sie ist schwarz von oben bis unten,
nur Mund und Nase schauen heraus
und die weißen Wellen ihres Häubchens.

Sie ist vier.
Sie spürt Schmerzen
Niemand hilft ihr.
Sie versteht es nicht.
Sie findet ihre Beine schön.

Jetzt ist das Mädchen 44.
Ich bin das.
Erst heute finde ich meine Beine wieder schön
Mein Arzt sagt,
was meine Hände immer wieder taub werden ließe,
wäre die doppelt verdrehte Wirbelsäule,
von der ich nichts wusste.
Nicht wusste 
dass sie sich 
extra 
für mich verbogen hatte,
damit ich gerade bleiben konnte.

Dann stehe ich 
an den Foltergeräten

Gefangensein wallt auf
Verlassenensein
Versuche meine Würde zu brechen
Ich hasse all das Verbiegen
Ich will
die Welt in den Arm nehmen
und irgendjemand
soll das bitte 
mit mir tun



III

Was mich mich diesem Raum überwältigt hat?

Es war nicht
das Krumm-mach-Brett
oder
die Buch-vor-den-Kopf-Zwinge
die Aufrichtemaschine 
mit der man sich nicht selber aufrichten kann
die Schulbank, auf der man festgeschweißt wird
nicht all die arretierte Körper
beschallten Kinder
oder der Sack um jemanden in den Sack zu stecken
All diese Geräte um Menschen zu führen
Und es war auch nicht mein Schmerz,
der mich überwältigt hat

Es war die Mitte.
Es war das, was inmitten von all dem
unbeschadet 
steht

Fließendes Unbeschriebenes

Welche Kraft!


Ich weiß schon, 
was ich für Gedanken 
für euch habe.
Sagt Gott.























Abendmahl mit Helmut 

Helmut, 57, klein, hager, glatzköpfig und mit Schalk in den Augen steht aufrecht an seinem Platz im Museum. Er ist nicht der typische Museumswärter, das sieht man sofort. Er ist so einer, den man gerne ansprechen würde. Und das hier macht er auch zum ersten Mal. Nur weil Reformationsjahr ist und Wittenberg-Rummel. Sonst macht er Wachschutz. Baustellen. Partys, Kirchentage. Sogar Parfümerien. Aber das mochte er nicht, weil er dann kaum noch was riechen konnte. Parfüm mag er sonst sehr. Zwei Flaschen braucht er im Monat. Und er riecht auch gut. Als ich ihn anspreche, weiß ich gleich, dass ich ihn mag. Er hält sich nicht lange mit Geplänkel auf. Ich frage ihn, was diese Arbeit mit ihm macht. Und wie so eine Arbeit sei - als Bewacher. Eine einsame Arbeit ist es. Stundenlang stehen. Im schlimmsten Fall waren es 15 Stunden. Auf Klo gehen? Trinken? Manchmal kaum möglich. Er ist der Unauffällige. Wachsam. Für die anderen nicht von Interesse. Fast wie ein Inventarstück. Acht Wochen hat er jetzt durchgearbeitet. Ohne Pause. Nur Arbeit. Kein Leben. Ob er sich das Leben für später aufhebe? Da lacht er. Es werde kein später geben - bei einem solchen Arbeitsalltag. Und zu Hause wäre seine kranke Frau. Kein Leben mehr übrig im Moment. Er erzählt, was ihm manchmal so schwer ist. Wir schweigen zusammen. Und seufzen. Ich sitze bei ihm. Dann gehe ich weiter. Wünsche ihm Gutes. Morgen werde ich nochmal im Museum sein. Bis morgen! Ruft er. Als ich am nächsten Tag im Museum den Flur 4 betrete, sieht er mich von weitem und kommt lächelnd auf mich zu. Unfassbar! Sagt er. Ich habe eine neue Arbeit! Wir setzen uns auf sein Fensterbrett. Ich freue mich mit ihm. Gleich bei mir zu Hause. Genau gegenüber. Sie haben mich gestern Abend angerufen, meint er fassungslos und schüttelt den Kopf. Er schwärmt begeistert von seiner neuen Arbeitskleidung. Er erzählt, worauf er sich schon freut. Auf sein Leben nämlich. Dann wird er still und schaut mich an. Kommen Sie mal. Sagt er. Gleich nebenan steht ein Kunstobjekt. In den Glasröhren symbolisieren bunte Bonbons den Überfluss. Vielleicht auch das Leben - neben all dem Grau. Er zieht mich zum Kunstwerk. Wird ganz ernst. Dann öffnet er einen kleinen Schieber und lässt einige Bonbons heraus. Er richtet sich auf. Wir stehen uns gegenüber. Er legt mir einen goldenen Bonbon in die Hand. Und dann essen wir beide andächtig. Meine Hand drückt kurz seine Schulter. Alles Gute! Ich drück Ihnen die Daumen! Er nickt. Lächelt. Würde-voll. Ich gehe. An meinem dritten und letzten Projekttag im Museum laufe ich nur kurz mit der ganze Gruppe im Schlepptau an Helmut vorbei. Wir sehen uns an. Lächeln einverständlich. Jemand ruft: Wir sind die, die schon die letzten Tage hier waren! Ich weiß doch. Sagt er. Und dann als ich noch einmal neben dem Kunstwerk stehe… die einzigen Lebensmittel im Raum sind die bunten Bonbons - da verstehe ich plötzlich. Und sehe uns nebeneinander: klagen und danken. aussprechen. das Amen nur seufzen. teilen. schmecken und sehen.

(31.08.2017)





Donnerstag, 10. August 2017


Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast.
Es klingelt
Ich stöhne
Ich habe den Kopf voll
Und die Hände
Jetzt doch nicht!
Ich öffne die Tür
Stöhne innerlich nochmals.
Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast.
Der Bruder da draußen sagt 
er brauche Hilfe
Sein Nummernschild ist ungarisch
seine Geschichte 
mitleidheischend
Jetzt doch nicht!
Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast.
Kinder klettern aus dem Auto
angeblich krank
das Geld
angeblich verloren
Die Leute hätten gesagt
ich würde helfen
angeblich
Ich stöhne innerlich.
Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast.
Etwas unwillig bitte ich sie an den Gartentisch
bringe Wasser und Limo
und etwas Obst
sie sagen ihre Namen
ich sehe in ihre Augen
höre ihre Geschichte
Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast.
Felicitas und Richard
sitzen scheu
das Fieberthermometer zeigt
achtunddreißig fünf
die kleine Frau beißt sich auf die Lippen
was soll ich tun
Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast.
Die Nachbarn mit den Gästezimmern
sie öffnen nicht auf mein Klingeln
ich biete ihnen Matten auf dem Fußboden
sie wollen doch lieber durchfahren
mit dem kranken Kind
Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast.
Es wird wärmer zwischen uns während wir erzählen
sie sind so schrecklich normal
ein nettes schüchternes Paar
die Kinder lachen auf dem Trampolin
wir Frauen gehen Brötchen schmieren für die Fahrt
wir machen eine große Tasche 
mit Essen und Trinken
und Spielzeug für die Kinder
wir fahren tanken
einmal voll
ich bezahle
Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast.
Du hast ein gutes Herz
sagt der Bruder
ich bin Christ
sage ich
ich auch
sagt er 
und dreht den Kopf zu Seite und muss zwinkern
alles gute für dein Leben
sagt er 
und für dich sage ich 
und gebe allen die Hand
dann rattert ihr Auto Richtung Autobahn
Was du einem meiner Brüder getan hast.
Die warme Abendsonne füllt den Himmel.


(9.8.17)

.... Gott gibt sich in Deine Hände...

 Predigt über "Geistwasser"  im Universitätsgottesdienst der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Rahmen der Predigtreihe...