Samstag, 13. Oktober 2018


Predigt für den 14. Oktober 2018 
- die Zeit ist kurz .....

Wie in jeder Woche wurde der Bibelspruch des kommenden Sonntags in großen Buchstaben in den Schaukasten der Kirchengemeinde gehängt.
Alle Leute, die in dieser Woche an den Worten aus der Bibel vorbei gingen, sollten sie lesen, sie im Herzen bewegen und in ihr Leben in dieser Woche einwirken lassen und am kommenden Sonntag würden sie einen Gottesdienst feiern und diese Worte der Bibel in ihrer Mitte bewegen. So machten sie das schon seit vielen Jahren.

Als Dietrich Anfang der Woche am Schaukasten vorbei kam, las er dort folgende Worte:

„Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. 
Alles ist mir erlaubt, 
aber nichts soll Macht haben über mich. 
Das sage ich aber, liebe Schwestern und Brüder: 
Die Zeit ist kurz. 
Auch sollen die, 
die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; 
und die weinen, als weinten sie nicht; 
und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; 
und die kaufen, als behielten sie es nicht; 
und die diese Welt gebrauchen, 
als brauchten sie sie nicht. 
Denn das Wesen dieser Welt vergeht. 
Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid.“ 
(1.Kor 6, 12+ 7,29-32a)

Dietrich schüttelte ein wenig den Kopf. Dann schnaubte er ironisch. So soll das Reich Gottes gelebt werden? „Diejenige, die Frauen haben, sollen tun als hätten sie keine“? Mit einem spitzbübisches Lächeln in den Mundwinkeln hob er den Kopf. Na dann, Herr Pfarrer! Das werde ich tun. Erst heute morgen hatte Sieglinde sich beschwert, ob er vorhätte den Titel „Held der Arbeit“ zu bekommen, weil er so viel im Büro sei. Was, wenn er die Bibelworte in dieser Woche mal in die Tat umsetzte? „Die, die Frauen haben, sollen sein, als hätten sie keine“? „Nichts soll Macht über mich haben“? Den ganzen Tag über im Büro hatte er schon so ein Flattern im Bauch. Er fühlte sich wagemutig. Aufgekratzt. Ganz nebenbei brachte er sogar seiner Sekretärin einen  Kaffee an den Tisch, was sie mit einer gehobenen Augenbraue erstaunt zur Kenntnis nahm. Es wurde 16 Uhr. Dietrich war in den letzten Wochen immer deutlich länger geblieben, aber heute erwartete er ungeduldig den Schlag der Uhr. Er schnappte sich seine Tasche und verließ schlagartig den Arbeitsplatz. Sein Herz flatterte noch mehr. Die Gedanken überschlugen sich. Er würde jetzt so tun als ob er nicht verheiratet wäre. Ein ungewohntes Kichern kroch seine kleine Bauchrundung empor. Entschlossen öffnete er die Strickjacke und nahm noch im Laufen den Schlips ab. Der war von Tante Erika. Wie alle anderen 37 im Schrank auch. Vor der Haustür blieb er abrupt stehen. Seine Hand mit dem Schlüssel sank langsam herab. Hier, wo seine Frau Sieglinde wartete, die alle Strickjacken und Schlipse wusch, die jede Gardine des Hauses selbst bestickt hatte und deren Sofahälfte einen ebenso tiefen Abdruck zeigte wie seine eigene Hälfte, hier  würde er heute vorbei gehen. Tief holte er Luft. Steckte den Schlüssel in die Tasche und ging einfach weiter. So als gehöre er nicht hierher. Bald schon musste er sich konzentrieren. Lange war er nicht mehr zu Fuß durch diese Straßen gegangen. Manche Fassade hatte sich verändert und viele Geschäfte ebenso. Er ließ sich einfach treiben. Ein völlig unbekanntes Gefühl: „Sich treiben lassen“. Es fühlte sich aufregend lebendig an. Einem Impuls folgend kehrte er in ein kleines Lokal ein und bestellte ein großes Ginger Ale - sowas hatte er noch nie probiert - und einen Martini. Mitten am Tag. Eine Martini. Er war gar kein Martini-Trinker. Interessiert schaute er den Leuten zu, die vorbei liefen. Dietrich schaute in ihre Gesichter. Er kam sich verwegen vor. Frisch wie nie. Nippte am Martini. Es war schön, so zu sitzen. So „als - ob“. Als ob er nicht das immer Gleiche machen müsste, als ob sein Leben nicht mehr vollkommen absehbar wäre bis zum Ende, als ob es noch so vieles gäbe, das er entscheiden können und neu machen. Er fühlte sich wach. Sein Handy klingelte. Sieglinde. Einen Moment wartete er, dann nahm er den Anruf an. Eine warme Stimme erklang. Diese Stimme mochte er. Hatte er immer gemocht. Er spürte sein Herz. „Ich komm gleich.“, sagte er kurz und legte auf. Er zahlte und ging. Das Flattern nahm er mit.

Musik (wird eingespielt): Über den Wolken…. (Strophe 1 +  Refrain)

Am Dienstag kam Carla am Schaukasten mit dem Bibelwort vorbei. Das, was dabei mit ihr geschah, hättest du nicht sehen können, denn es passierte ganz innen und in nur wenigen Momenten. Carla stutzte einen Moment als sie den Spruch las. „Weinen, als weinte man nicht…“ Sie überlegte eine Viertelsekunde lange, wie es wäre, tatsächlich nicht traurig zu sein. Wirklich nur eine Viertelsekunde lang. Und in der nächsten Viertelsekunde durchschwappte sie plötzlich ein heißes Gefühl durch den ganzen Bauch bis in die Beine. Sie fühlte ihren ganzen Körper und das warme freundliche Wallen darin. Das Gefühl war nur so groß wie eine Ahnung und trotzdem spürte sie es überall. Das dauerte genau eine Viertelsekunde lang. Lang genug, um die Eiseskälte zu schmelzen, die sie seit Wochen in sich herum trug. Die dritte Viertelsekunde spürte Carla ein tiefes Ruhen. Allertiefste feste Ruhe. Ganz in sich. Die hatte den Geschmack von etwas, das sie von früher von sich kannte, aber scheinbar vor einiger Zeit verloren hatte. Und die letzte Viertelsekunde war wie ein Aufsteigen aus einem erstaunlichen Gedanken. Mehr war es nicht. Nur eine ganze Sekunde lang. Und doch ging Carla als eine Andere weiter. Sie war nicht mal stehen geblieben. Es war nur dieses Wort gewesen: „die weinten seien als weinten sie nicht“. Dieses Wort war nun eingeprägt auf diese Sekunde ihres Lebens, die schwerer wog als all die Wochen davor. 

Musik: Über den Wolken…. (Strophe 2 + Refrain)

Auch am Mittwoch gingen viele Leute am Aushang im Schaukasten vorbei. Auch Leni und Marja. 13 Jahre alt. Sie kamen kichernd angeschlenkert. Es war nichts besonderes. In letzter Zeit kicherten sie über alles. Sie konnten gar nichts dagegen tun. Es kam einfach über sie. Manchmal wurde es sogar richtig peinlich. Sie konnten über den Bibelspruch da im Schaukasten nur den Kopf schütteln. Leute, die sich freuen, sollen sein, als freuten sie sich nicht? Die haben scheinbar keine Ahnung. Flüsterte Leni. Was soll das? Flüsterte Maria zurück. Soll ich mir noch den Müll der anderen aufladen? Dabei stolperte sie ungeschickt und die beiden rannten atemlos lachend davon.

Musik: Über den Wolken…. (Strophe 3 + Refrain)

Über den Wolken
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann
würde 
was uns groß und wichtig erscheint
Plötzlich nichtig und klein

Über den Wolken
und Hier
Im Himmel
der hin und wieder
unter uns ist
sind alle Grenzen und Sorgen
sagte man
in einem großen Wort geborgen
In einem Wort
das so stark ist
dass es dich schon nur im Vorbeigehen
verwandeln kann

Das Wort sagt dir, was du brauchst:
Löse dich 
sei geborgen und darum frei
das was dir groß und wichtig erscheint
könnte nichtig sein und klein
Öffne die Augen und schau
sagt das Wort
nimm mich in deine Gedanken 
erwarte noch etwas
wie  vielleicht ein
Flattern im Bauch
oder eine
Viertelsekunde Wärme bis in die Zehenspitzen
erwarte 
noch etwas 
von dir selbst
lebe
als ob
der Himmel 
noch kommt. Amen


Und das große Wort Gottes und der Friede Gottes, 
die größer sind, als all unser Vermögen, all unsere Vorstellung, 
bewahre uns und unsere  Herzen in der Liebe Gottes Amen.


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