Sonntag, 16. Juni 2024

... die Frage der Freiheit...

Predigt zum Harzfest und 1050. Stadtfest  
in Osterwieck
mit der Geschichte "vom verlorenen Sohn"...



Er schaltet sein Handy auf lautlos und bindet sich sehr langsam den rechten Sneaker zu. Dann lehnt er sich auf dem Sitzungsstuhl mit Edelstahloptik und dunkelblauen Velourstoff zurück und schaut die Gemeindeversammlung in dem kleinen Ort an.

Es ist der Morgen nach der Wahl.

Oder es ist der Morgen nach dem Streit.

Oder es ist mitten in der Planung für ein großes Fest.

 

Niemand wusste, woher Jesus plötzlich gekommen war, aber er kam genau im richtigen Moment.

In einem Moment der Unsicherheit und wo man nicht mehr wusste, was gerade richtig ist.

Wo man die Hoffnung gerne wenigstens an einem Zipfel packen würde. 

Jesus schlägt die Beine übereinander und beginnt zu sprechen. 

„Einmal“, sagt er, „war da so eine Familie. In der gab es zwei Kinder. Es wäre schön, denkt eines der Kinder, wenn ich einfach nur für mich entscheiden könnte. Wenn ich nicht mehr in diesen Verpflichtungen und Erwartungen hier wäre, wenn ich nur für mich denken und planen könnte und selbst entscheiden - einfach nur für mich - was ich mit dem machen möchte, was ich habe. Es möchte einfach frei sein von dem Vielen, dass es gerade als bedrückend empfindet und frei sein zum Entfalten in die vielen Möglichkeiten des Lebens. Es bittet seine Eltern, in die Welt ziehen zu dürfen, mit seinem Anteil an dem, was der Familie gehört. Und seine Eltern sind bereit. Sie lösen ihm seinen Anteil aus dem Familienbesitz aus. Und ihr Kind zieht los. 

Mitten im Tagesgeschäft denken sie in den nächsten Jahren oft, wie es ihm wohl ergangen sein würde. Denn ihr Kind meldete sich nie. 

Niemand weiß genau, was es in jenen Jahren tat - frei und ungebunden. Ob es seinen großen Traum erfüllen konnte? Glücklich und erfolgreich war? Zufrieden und angekommen? Auch das hätte passieren können. Was aber alle mitbekamen war, wie eines Tages ein Mensch sehr verloren die Dorfstraße hinein kam wie ein Fremder. Zögernd. Und alle erinnerten sich später für immer an den Schrei des Vaters, der ohne ein Wort seinem Kind entgegen rannte und es ganz und gar in einer Umarmung barg. Und an sein Herz drückte. 

Die Leute waren gespannt, was die Eltern nun tun würden, das könnt ihr glauben. 

Aber sie taten nichts, als den Tisch zu decken, etwas Schönes zu kochen, das Bett zu beziehen und ihr Kind aufzunehmen in ihre Haus, als wäre es nie weg gegangen. An diesem Abend stand wieder ein Mensch draußen vor der Tür. Verloren. Sich fremd fühlend. Diesmal war es das andere Kind. Es verstand nicht, was es da erlebte. Das passte nicht zu seinem vernünftigen Menschenverstand. Irgendwo müsste doch auch die größte Güte mal ein Ende haben. Es könnte doch nicht jeder einfach machen, was er oder sie wollte.  Diese Freiheit war ihm zu viel. Und wieder war es der Vater, der mit großen Schritten auf sein Kind zuging. Hörte und es berührte. Und einlud, an den Tisch. Und dann ging und seinem Kind die Freiheit ließ, selbst zu entscheiden.“ 


Die Menschen in der Gemeindeversammlung schauten sich an. Eigentlich spürten alle das dringende Verlangen, in all dem aktuellen Schlamassel und den großen Aufgaben, aufzustehen und einfach zu gehen und sich nur noch um ihren eigenen Mist zu kümmern. Oder vor die Tür zu treten und deutlich zu machen, wo sie ihre Erwartungen nicht erfüllt sahen. 


Aber Jesus hatte wieder mal Brot dabei. Typisch. 

So saßen sie erstmal und kauten und gaben die Körbe weiter nach links und rechts. So saßen sie erstmal zumindest zusammen.


Die Geschichte wirkte in ihnen nach. Welcher der Söhne war eigentlich der Verlorene? Welcher der Übergangene? Welcher der Wiedergefundene? Wieviel Freiheit braucht einer und darf eine? Was würde sie alle wieder zusammen an den Tisch bringen? Die Geste des Vaters rührte sie. Am Ende, dachten sie, ist dies ja die tiefe Sehnsucht: sich bergen können in einer großen Güte und Liebe. Egal, in welche Entscheidung man sich verloren hätte. Egal, wie weit man auseinandergegangen war. Egal, wie tief der Graben sei. Egal, wie große die Wahrscheinlichkeit von neuem Ärger. Egal, welchen Tiefpunkt man gerade erreicht hatte. Und es täte so gut, die Arme zu öffnen oder die Dorfstraße hinaufzugehen mit so einer Hoffnung. Einfach gar nicht groß genug hoffen zu können. Sie sahen sich an.



Weit offene Arme haben wäre toll.

Nicht Fremde im eigene Haus zu werden, wäre toll.

Hereingebeten zu werden und herein zu bitten wäre toll.

Nicht nur entweder-oder denken können wäre toll.

Im Haus der Gesellschaft immer wieder die Tische zu decken, wäre toll. 

Niemand verloren geben wäre toll. 

„Freiheit ist ein Wagnis.“,

sagt Jesus im Gehen.

Sie funktioniert nur miteinander.

Man kann nicht für sich alleine frei sein.“


Nicht mehr und nicht weniger als dieses Hoffnungsbild der gütigen Eltern will ich genau so heute stehen lassen, hier in Osterwieck. Weil Gott es geschenkt hat: vom Vater, der seine Menschen in Freiheit geschaffen hat und in Gemeinschaft. Davon, wie Menschen diese Freiheit miteinander austarieren und dass das manchmal keine gerade Linie ist, aber mit großer Hoffnung gegangen werden darf.


Nicht mehr und nicht weniger als das alte Lobet-den-Herrn-meine-Seele will ich hier heute genau so stehen lassen. Dieses Lob und den Dank an Gott, weil er uns Mut macht, dabei zu bleiben - wie unsere Urahnen - und zu streiten für Räume, die Menschen bauen und gemeinsam gestalten, über Generationen und Jahrhunderte und auch mal 1050 Jahre lang.  


Gottes Wort und seine Nähe sollen uns bestärken, Salz und Licht zu sein in einer Welt, die Hoffnung braucht. Salz und Licht zu sein in einer Zeit der Unsicherheit, wo man nicht mehr weißt, was gerade richtig ist. Sie sollen frei machen, unsere Arme zu öffnen. Und immer die Hoffnung an einem Zipfel zu packen. Im Feiern eines tolles Stadtjubiläums, soll uns Gottes Treue unsere Ängste vertreiben und uns helfen, Gemeinschaft zu stärken und miteinander zu leben - in aller Freiheit. Gott sagt, das geht. Amen.


Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß und stärke unsre Liebe. Amen


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