Mittwoch, 30. September 2020

Tantenstadt

Berlin wie durch das Glasauge alter Geschichten betrachtet. Immernoch triggert jeder Aufenthalt sonst schlafende Kindheitserinnerungen, Mauerbilder, das Gefühl einer Parallelwelt, die für immer unerreichbar galt. Langsames Schlendern durch die langen Alleen in Steglitz. Steglitz ist ein Kindheitszauberwort. Davon haben die Tanten erzählt, die mit exotischen Autos von der  Holperstraße meiner Kindheit im Schritttempo in unsere Einfahrt mit den verfallenen Klinkersteinpfosten einbogen. Aus dem Auto entstieg ein Schwall von Farben und Dürften, weichen Schals und knisternden Tüten. „Steglitz“ erzählten sie. Und heute stehe ich hier, mitten in Steglitz. Tantenstadt der Knistertüten. Alleen von Linden und Ahorn. Schwärme von Fahrrädern, die einer Mannschaft von Synchronschwimmern gleich über Kreuzungen und Straßenränder wallen. Jung alt gewordenen Frauen in fadenscheinige Farben gekleidet, die mit blassen Gesichtern  Schlüssel in glasgeriffelte Haustüren stecken, die Mundwinkel maximal nach unten gezogen. Businessman mit Elektroroller umkurven elegant Großmütter mit Kinderwägen. An den Klingelschildern der weiß und creme und hellgrau gestrichenen Sechsgeschosser stehen Namen wie Schulz, Kleiner, Lübke und Storch. Hunde ohne Hundeleine umtänzeln einander vor Thai, Mexico und Schweizer Restaurant. Frauen im besten alten Alter wallen mit ihren weiten, maximal farbigen Gewändern unter hochtoupierten blondierten Haaren und Lippen in Granatrot an Gourmet Style Geschäften und Biobäckereien vorbei. Auf der Ecke, mitten in der Dreißigerzone, die leere geschlossene Berg-Apotheke. Im Fenster ein Zettel der Polizeidirektion informiert, dass ihnen bereits bekannt sei, dass hier hin und wieder ein Eichhörnchen durch die Räume springe und dass es alleine wieder heraus käme. Ein Rollstuhlfahrer winkt mich verzweifelt tonlos mit Augenbrauen und unhörbaren Worten von gegenüber zu sich, um ihn in seinen zerschlissenen Sachen über die  viel befahrene Straße zu bringen. Ich schiebe ihn über die goldenen Pflastersteine der Familie Rosenthal. Neben dem Frauenbuchladen und dem Geschäft mit Kaschmirschals wächst mitten auf dem Bürgersteig das Reich eines Blumenladens mit exotischen Pflanzen. Eine alte Diva mit Sonnenblumen auf dem Einkaufstrolley tritt, in der anderen Hand eine riesige rosa Tasse jonglierend, aus dem Café gegenüber und setzt sich in den eleganten Korbstuhl. Nebenan beim Italiener sitzen sie eng gedrängt auf einer wilden Sammlungen von weißen Plastestühlen und alten Küchenhockern um Campingtische. Ein Herr am Gehstock betritt wie in Zeitlupe den Laden. Norbert, der schlanke zwinkernde Verkäufer in den Endvierzigern mit Silberrandbrille aus den Achtzigern, lässt seinen dreihundertsten Kaffee Latte für heute aus der Maschine und lächelt auch nach acht Stunden noch einladend. Putz bröckelt vom Stuck der Balkone. Die kleine Verkäuferin in der Fleischerei, die hinter dem Tresen kaum zu sehen ist,  hebt ihre Hand mit dem blauen Handschuh, um den nächsten Kunden heran zu winken. Der Hundefrisör „Natürlich Hund“ hat wegen Krankheit geschlossen. In einem Baum hat sich lärmend ein Schwarm Vögel niedergelassen. Von der Kreuzung dröhnt lauter Hiphop aus einem weißen Audi. Die beiden Frauen mit dem Undercut trinken nebenan Saft der Marke Ostmost. In Steglitz, Tantenstadt. Am Ende kaufe ich knallrote Himbeeren bei Yussuf - in einer Knistertüte.





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