Samstag, 19. Oktober 2019

Eine Predigt 
über Nenas wunderschönes Lied 
"Wunder geschehn".

Am besten du hörst dir dieses Lied vorher an.
Und danach gleich nochmal.
Und dann singst du einfach laut mit.

(Der Einstieg der Predigt hängt mit der überwiegend Jugendlichen
Kirmesgesellschaft zusammen, die in Feierlaune, nach einer durchgefeierten
Nacht und vor zwei weiteren Festtagen und -nächten vor mir in der Kirche saß...)



Wunder. Was ist ein Wunder? 
Ist ja ein Wunder, 
dass der gestern Abend noch heil nach Hause gekommen ist.
Ist ja ein Wunder, dass der sich mal hat sehen lassen.
Ist ja ein Wunder, dass die einen Freund gefunden hat
Ist ja ein Wunder, dass der eine Lehrstelle abbekommen hat.
Ist ja ein Wunder dass….
Was ist ein Wunder?



Ich war 16.
DDR. 10 Klasse.
Kein Wunder.
Ganz normal.
Normal war, sich Sachen selbst zu nähen,
weil die aus dem Laden sehr öde waren.
Normal war  F6 zu rauchen und ein Moped zu haben.
Normal war zu „a-ha“ zu tanzen 
und möglicherweise Modern Talking zu mögen.
Normal war ein Elternhaus zu haben und eine Wohnung, 
genug zu essen und all den Kram.
Normal war die 10. Klasse zu machen.
Normal war ein Sommer mit Urlaub und Zelten mit Freunden, Sand zwischen den Zehen und mit nassen Haaren ins Bett.
Normal war einen Freund haben und knutschen.
Normal war zum FDJ-Studienjahr zu gehen im blauen Hemd,
zum Gruß „Freundschaft" zu brüllen, 
über irgendwelche Marxismus-Theorien reden zu müssen, 
die kein Mensch wirklich kapierte. 
Normal war, Wandzeitungen zu gestalten 
mit dem Motto „Mein geliebter Sozialismus“ 
Oder „Unsere Patenbrigade Stahlkombinat Vorwärts“ 
oder „Nie wieder Faschismus.“
Normal war Mathe Deutsch Geschichte.
Normal war schweigen.

Schweigen über die eigentlichen Gedanken, die man hatte.
Normal war zu unterscheiden, wem du was erzählst.
Normal war, dass manche gleicher waren als andere.
Die bekamen auch mit einem 3er Durchschnitt einen Studienplatz. Dafür gingen sie 3 Jahre zur Armee.
Normal war, dass alle die Nase voll hatten 
und keiner es laut sagte.
Und das war auch normal, 
man wollte ja nicht blöd sein und die Lehrstelle riskieren. 
Normal war heimlich Westfernsehen gucken und RIAS hören.
Normal war, Musik aus dem Radio aufnehmen mit allen Rauschtönen oder die Kassette vom Kumpel kopieren, die die Kopie einer Kopie einer Kopie war und nur noch leise.
Normal war, viele Fragen nicht stellen zu dürfen. 
Normal war, sich auf die Zunge zu beißen. 
Normal war hinter der Hand anders zu reden als sonst.
Normal war, zum Republikgeburtstag zum großen Umzug zu müssen mit Fähnchen zu winken im Marschschritt. 
Ich war 16. 
DDR. 10. Klasse geschafft.
Gerade in die 11. Klasse gekommen.
Und plötzlich war manches unnormal.
Unnormal war, dass nach dem Sommer 
Schüler in der Klasse fehlten, 
die in Ungarn Urlaub gemacht hatten.
Normal war, dass wir nicht darüber reden durften.
Unnormal war, dass Menschen in den Kirchen 
nun unverhohlen ihre Meinung sagten. 
Normal war, dass sie es draußen immer noch 
hinter vorgehaltener Hand taten.
Normal war, dass die Presse sagte, alles sei wie immer.
Unnormal war mein 7. Oktober 1989.

Ich war 16. 
DDR. 11. Klasse.
Die staatlichen Feierlichkeiten waren abgesagt 
und es galt ein strenges Versammlungsverbot.
Und das Verbot Blumen zu tragen.
Von Mund zu Mund hatten wir uns eingeladen.
Still
wollten wir gehen. 
Viele, doch jeder für sich.
In der Hand eine Blume.
Wir wurden immer mehr. 
Gingen.
Schweigend.
Die Blume als Protest.
Eine fette Stille. 
Mein Herz klopft bis zum Hals.
Das würden sie uns nicht durchgehen lassen.
Wir gingen weiter spazieren.
Hunderte.
Jeder einzeln.
Mit seiner Blume.
In der Geschäftsstraße in Potsdam.
Es ging nicht gut.

Ein Wunder war, dass wir es wagten.
Ein Wunder war das fette Schweigen.
Ein Wunder waren die zarten Blumen als Protest.
Ein Wunder war es, dass jemand mich in eine Seitengasse zog,
als Militärautos mit Schiebeschild uns einzukesseln drohten.
Ein Wunder war, das ich heil heraus kam,
denn viele kamen an dem Tag ins Gefängnis der Stasi.
Ein Wunder war als ich einen Monat später
von einer Versammlung heim kam
und meine Eltern weinend im Sessel saßen.
Ein Wunder waren die Kerzen in unseren Händen 
und in den Händen derer, die das gar nicht geübt waren.
Ein Wunder das alles.
Eine Wunder die Freiheit.

Wunder musst du behüten.
Die Freiheit musst du behüten.
Damit dir nicht einer in die Tür deiner Kirche schießt.
Deiner Kirche oder Synagoge oder Moschee
oder Schule oder Unterkunft für Geflüchtete.
Demokratie heißt nicht „wir und die",
Demokratie heißt wir. 
Wir sind alle.
Schüsse auf ein Glaubenshaus sind Schüsse auf uns alle. 
Auf unsere Freiheit.
Und sie ist doch ein Wunder, das du behüten musst.

Wunder geschehn.
Ich habs gesehn.
Wunder geschehen dir auch.
Halt die Augen offen.
Es tut sich was in deinem Leben:
- Ganz ersehnt kommt jemand zu dir.
- In Gefahr bleibst du heil.
- bisher unklare Wege kommen doch auf dich zu.
- Du bist verliebt. - Du traust dich was.
Trau den Wundern.
Was auch passiert, sagt Gott,
Ich geh den ganzen langen Weg mit dir!
Was auch passiert:
Wunder geschen.
Wir dürfen nicht nur an das glauben 
was wir sehen. Amen.


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