Sonntag, 5. August 2018

Predigt am 5. August - Israelsonntag

                    (Quelle: sputniknews.de)


Schulterzuckend steht sie in einem alten Hof in Lublin. „Es ist ja noch alles genauso.“ sagt sie betroffen. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn nichts mehr so ausgesehen hätte wie vor 75 Jahren. Aber so… die alten Holztüren mit den verschnörkelten Klinken und das Bäumchen in der Mitte mit der Bank zum Sitzen, die gleichen Fensterreihen und das schräge Stück Himmel ganz oben hinaus aus dem Häusercarree. Alles ist noch da. Alles ist wieder da. Alle Bilder. Alle Gefühle. Sie zuckt mit den Schultern, vor Ratlosigkeit und weil sie etwas weinen muss. „Da vorne“, spricht sie weiter, „da vorne, da hatte der Joschi seine Bäckerei. Da habe ich Brot geholt. Und hier hinten im Hinterhaus war Moschele. Der war Schuster. Der hat unsere Schuhe gemacht. Und an der anderen Ecke hat der Benjamin immer Autos repariert. Und da oben. Das war mein Fenster. Hier war meine Kindheit. Und hier war sie zu Ende. Ich war doch erst ein Kind. Ich wohnte hier mit Mama und Papa und Haim und Hela.“ Das Haus von Hana wurde Teil vom Ghetto. Das Ghetto von Lublin. Beide Eltern wurden abgeholt, Arbeitsdienst. So kümmerte sich die 7jährige alleine um den 6jährigen Bruder Haim. „Ein lebhaftes Kind war er und so schlau. Blonde Haare und ganz blaue Auge. Und die kleine Hela…. mit blonden Locken… so ein hübsches Kind.“ Sie werden abgeholt. Lange dunkle Fahrten. Fußmärsche durch hüfthohen Schnee. Nach Majdanek bringen sie sie. Ein Gelände 5 x 5 km. Eine Vernichtungsfabrik. Schon am Eingang werden sie getrennt. Die 7jährige Hana wirkt stabil. Ist zu gebrauchen. Sie darf auf die gute Seite. Ihre beiden kleinen blonden Geschwister werden mit einer alten Tante auf die andere Seite geschickt. - Nur zum Spielen- wird dem großen Mädchen versichert. Es dauert nur ein paar Tage, bis sie weiß, woher der Rauch aus den Schornsteinen kommt und dass sie ihre Geschwister nicht wiedersehen wird. Sie wird zum Latrinendienst eingeteilt. Abends muss sie im Kasino für die betrunkenen SS-Männer, die Mörder ihrer Familie, als Clown auf einem Tisch tanzen. Jeden Abend. Sie wird verkleidet und angemalt. Dann singt sie. Um ihr Leben. Manchmal wird sie geschlagen. Mit 100 Frauen wohnt sie in Block 12. Sie ist 7 Jahre alt. Sie hat es überlebt. Durch großes Glück. Jetzt ist Hana 89 und lebt in Tel Aviv. Sie macht vor ihrem Tod noch eine Abschiedsreise in das Land ihrer Kindheit. in leicht gebrochenem deutsch mit jiddischem Klang spricht sie. „Ich habe überlebt, um meine Geschichte zu erzählen.“ sagt sie. Eine Geschichte von Verachtung und Gleichgültigkeit, von Rassismus, Vernichtung.  
Können wir sie hören?

- armenische Musik erklingt -

Peter wächst als typischer amerikanischer Junge auf. Er geht zur Schule, hat Freunde, liebt Baseball und Erdnussbutterbrote. Nur seine Haut ist etwas dunkler als die Anderer. Und noch manches andere ist anders, bemerkt er mit der Zeit. Bei Tisch gibt es nicht Pommes und Coke, sondern Baklava, Alani und Dolma und dazu immer Lavash … jeden Abend drei Gänge. Seine Großmutter und die Eltern sprechen nicht nur englisch, sondern untereinander auch noch armenisch - die Sprache der alten Heimat. Und an den Wochenenden, wo die anderen typisch amerikanischen Familien Baseball schauen, sitzen sie zusammen mit Cousins und Tanten in der Großfamilie. Es werden alte Lieder gesungen und Sagen erzählt. Wo aber seine Heimat liegt? Peter erfährt es nicht. Niemand redet mit ihm darüber. Auch nicht, warum er hier in Amerika ist und nicht im alten Land, wenn es doch so wunder-wunderschön dort ist mit den Aprikosenbäumen und den schönen Gewändern der Frauen. Er sucht Armenien auf der Landkarte. Er findet es nicht. Wenn er seine Familie fragt, wird er vertröstet. Einen großen Schmerz spürt er da. Niemand redet mit ihm über das, was geschehen ist. Erst später, erst als Student, als Erwachsener, als Lehrer, als Schriftsteller, lüftet sich der Nebel um seine Herkunft. Um das Land Armenien. In einer Biographie beschreibt Peter Balakian dies alles. Und was er dann rausfand, das war verstörend. Ich selber konnte kaum weiterlesen in all den Schilderungen dessen, was sich um 1900 und vor allem 1915 in der türkischen Provinz abspielt. 100.000ende waren es. Nicht die infame Menschenvernichtungsfabrik, wie später für die Juden, anders schlimm. Aber auch 1,5 Millionen Menschen. Erschlagen, verhungert, verdurstet, erstochen, aufs Schlimmste massakriert - vom Baby bis zum Opa. Jahrelang. Ganze Städte und Dörfer wurden deportiert und erschossen: die Namen der Orte nennt kaum einer…. Chan - Dier-als-sur - Van - Erzincan -Diyarbakir - Harput - Urfa - der Berg Ararat. Alle vernichtet. Europa schaute zu. Keiner griff ein. Bis heute leugnet das Land diese Vernichtung. Bis heute sind die Menschen sprachlos. Bis heute wirkt es sich in ihrem Alltag aus. Bis heute. Genau 100 Jahre ist es her.  „Ich muss diese Geschichte erzählen,.“ sagt Peter. Eine Geschichte von Verachtung und Gleichgültigkeit, von Rassismus, Vernichtung.  Wollen wir sie hören?

- armenische Musik erklingt -

Ich war 15 Jahre alt und hatte alles gelesen. Alle DIESE Geschichten. Bändeweise unvollendete Lebensgeschichten. Vergast. Erschossen. Verhungert. Ich wollte mir diese Lager anschauen. Und ich bin alleine nach Ravensbrück gefahren und nach Sachsenhausen. Nach Buchenwald. Alleine. Im Gepäck die Bilder, die Gesichter, die Lebensgeschichten. Ich hatte sie alle dabei - in meinem Kopf. Alle diese hoffnungsvollen, zukunftsvollen Menschen, all diese angefangene Lebenszeit, die einfach andere Leute beendeten. Es ist mir schwer geworden in diesen Lagern. Ich hatte Blumen mitgebracht und Kerzen. Damals habe ich beschlossen, nicht aufzuhören, solche Geschichten weiter zu erzählen, egal woher man sie erzählt. Es gibt noch viele DIESEr Geschichten bis heute. In fast jedem Land der Welt. Geschichten zum Erzählen. Zum Erinnern. Zum nicht vergessen. Zum wach bleiben.

Das bedeutet nicht, dass ich ein trauriger Mensch sein will, ein schwermütiger, ein tragischer, ein schuldbeladener, einer der kaum aufsehen kann, ein Problemmensch.
Das Erzählen dieser Geschichten will mich wach halten. Dafür, wenn es wieder anfängt - das Unterscheiden, das schräge Schauen… das Vergleichen. Das Ausgrenzen. Und HAT wieder begonnen....

Gott sagt: „Ich habe Wächter auf deine Mauern gestellt, Jerusalem! / Ihr Rufen verstummt nicht einen Augenblick, / weder am Tag noch in der Nacht. / Ihr Wächter sollt Jahwe an Jerusalem erinnern! / Gönnt euch keine Rast, 7 und lasst ihm keine Ruhe, / bis er Jerusalem wieder so hergestellt hat, / dass alle Welt die Stadt rühmt. 

Heute ist Israelsonntag. Immer am 10. nach Trinitatis. Ursprünglich erinnert man sich an die Zerstörung des Tempels. Und daran, was für eine Geschichte Christen und Juden miteinander haben. Und es erinnert für mich auch an diese schweren Kapitel. An Holocaust. Besonders jetzt, wo viele Menschen sich nicht mehr erinnern.


Wir sollen erinnern, sagt Gott im Jesajabuch. Uns erinnern. Gott erinnern.
Gott ist heilig. Und das Leben. Das Leben: das sind die Menschen neben euch. Das sind eure Nächsten. Bei Gott ist kein Platz für Rassismus. Für Vorurteile. Für Verachtung. Bei Gott ist Leben. Ist Achtsamkeit füreinander. Nachsicht. Demut. Geduld.  Will ich bei Gott sein. Dann gilt das für mich. Dann gilt, dass jeder andere mein Nächster ist. Das ist manchmal unbequem.  Amen.


Und der Friede Gottes, welcher höher ist, als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

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