Predigt am Sonntag Rogateim Halberstädter Dom
Dem Pfarrer einer Stadt im Süddeutschen fiel ein alter, bescheiden wirkender Mann auf, der jeden Mittag die Kirche betrat und sie kurz darauf wieder verließ. So wollte er eines Tages von dem Alten wissen, was er denn in der Kirche tue.
Der antwortete: „Ich gehe hinein, um zu beten.“ Als der Pfarrer verwundert meinte, er verweile nie lange genug in der Kirche, um wirklich beten zu können, meinte der Besucher: „Ich kann kein langes Gebet sprechen, aber ich komme jeden Tag um zwölf und sage: ,Jesus, hier ist Johannes’. Dann warte ich eine Minute, und er hört mich.“ Einige Zeit später musste Johannes ins Krankenhaus. Ärzte und Schwestern stellten bald fest, dass er auf die anderen Patienten einen heilsamen Einfluss hatte. Die Nörgler nörgelten weniger, und die Traurigen konnten auch mal Lachen. „Johannes“, bemerkte die Stationsschwester irgendwann zu ihm, „die Männer sagen, du hast diese Veränderung bewirkt. Immer bist du gelassen, fast heiter.“ „Schwester“, meinte Johannes, „dafür kann ich nichts. Das kommt durch meinen Besucher.“ Doch niemand hatte bei ihm je Besuch gesehen. Er hatte keine Verwandten und auch keine engeren Freunde. „Dein Besucher“ fragte die Schwester, „wann kommt der denn?“ „Jeden Mittag um zwölf. Er tritt ein, steht am Fußende meines Bettes und sagt: ,Johannes, hier ist Jesus’.“ (Typisch! S. 18)
Wenn Du das Bild eines Menschen in Dir aufrufst, der betet, was für ein Bild hast Du vor Augen? … So einen Johannes, der still hinten steht, vielleicht nur zwei Minuten? Wie gerade kurz einen Schritt heraus getreten aus seinem Alltag, der atmet und kurz mit dem Kopf oder Herzen im Himmel ist und der gleich wieder den Fuß hebt und zurück tritt auf die Straße? Wenn Du das Bild eines Menschen in Dir aufrufst, der betet, was für ein Bild hast Du vor Augen? … Siehst Du einen Menschen an einer Klagemauer, die Hand auf die Steine gelegt? Jemand auf Knien. Tief versunken? Oder mit erhobenen Armen und offenen Händen voll Leidenschaft? Siehst du eine im Wald stehen bleiben, atmen und nicken? Oder die Hände, die sich auf der Bettdecken abends falten? Oder die sich kurz zusammen ziehen, schon auf dem OP Tisch und ein Stoßgebet in den Himmel schicken? Das alte vergilbte Bild eines Vater, der mit seiner Familie vor dem Bett kniet? Die Familie, die am Tisch nicht sofort beginnt mit dem Essen, sondern einen Vers spricht, gemeinsam, still oder vergnügt. Denkst Du an welche, die an einem Unglücksort kleine Zettel mit einem Gebet unter Steine legen oder an die Männer, die abgeführt wurden in US Capitol, weil sie vor wenigen Wochen um Gottes Geist für dieses Haus und den Geist der Barmherzigkeit und Nächstenliebe gebetet haben. Gibt es da ein Bild von Dir als Betende*n?
Was auch immer Du vor Deinem inneren Auge siehst: Wie Johannes treten alle für einen Moment aus ihren Alltagsworten hinein in einen Raum. Der ganz andere Worte hat oder gar keine braucht. Gebet ist wie ein Zimmer, in das Du gehst. Eine Seufzendschön-Kapelle für Deinen Dank, ein Wütendaufgott-Dom für Deine Verzweiflung. Ein Schwerenherzens-Winkel für Deine Traurigkeit. Eine Todesangstbasilika für die, die um Leib und Leben zittern.
Die gibt es übrigens wirklich. Die Todesangstbasilika. Sie steht in Jerusalem auf dem Ölberg. Sie trägt auch den Namen "Kirche aller Nationen“, weil 12 Nationen, darunter Deutschland, sie kurz nach dem 1. Weltkrieg gemeinsam gebaut haben. 12 Kuppeln zieren sie, wie ein Hinweis auf die Nachfolge als Jüngerinnen und Jünger. In der Mitte, vor dem Altar ist, umringt von einem dornenkronenartigen Zaun ein großes Stück Felsen. Dort, so sagt man, ungefähr, muss damals Jesus gebetet haben in der Nacht seiner Verhaftung. Unter Tränen und Ängsten. Die Todesangstbasilika heißt die Kirche deswegen. Weil Jesus immer wieder vorgelebt hat, wie persönlich, wie direkt, wie unmittelbar Gott angesprochen werden kann, gerade in den bedrängenden Momenten des Lebens. Von jedem und jeder.
Meine Schreibkollegin Beatrice von Weizsäcker hat mir und anderen neulich erzählt, wie sie nach einem schweren Einschnitt in ihrem Leben eine ganz neue Art des Betens gefunden hat. Ihr Bruder Fritz von Weizsäcker wurde 2019 von einem Mann ermordet. So ein Ereignis macht sprachlos. Ihr Gebet war an diesem schmerzhaften Abend die einzigen Worte, die sie finden konnte. „Gib acht auf meinen Bruder!“ betete sie. Damit begann ein Gespräch mit Gott, erzählt sie, wo sie bis heute oft wütend ist und kritisch. nie formvollendet, aber echt und persönlich. Danach schrieb sie gleich zwei Bücher über das Beten und den Glauben. So viel hat das in ihr bewegt.
Für die Jünger und Jüngerinnen von Jesus werden auch solche Zeiten kommen, wo sie sprachlos und voll Angst sein werden. Jesus weiß, dass er gehen muss und er redet in jenen Tagen sehr viel mit ihnen darüber, was bleibt, wenn er geht. Wie sie trotzdem innig verbunden sein werden. Zum Beispiel im Beten. Und auch durch den Heiligen Geist, die Kraft Gottes, die Herzen anrührt, Gedanken erhellt, Menschen zueinander bringt. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei.“ (Joh 16) sagt Jesus. Beten ist unsere Sprachen miteinander. Und das bedeutet, wenn ich bete oder wenn Du betest, dass er es hört. „Nicht Du hast mich erwählt, ich habe Dich erwählt!“, sagt Jesus. Ist doch klar, dass ich Dich höre, dass wenn Du sprichst, es es mich anrührt. Wie ein Trommelfell in Vibration gerät bei der kleinsten Bewegung im Raum und bei jedem Paukenschlag, so vibriert beim Beten zwischen uns unsere Beziehung. Du und ich. Das ist mein Versprechen, sagt Jesus. Und dass Dein Gebet etwas bewegt. Auch das. Allein das wirst Du manchmal nicht sehen. Weil es in Deine Tag eingewebt sein wird. Gebet kehrt nichts auf dem Absatz um. Es wirkt auf eine unvorhersehbare Weise.
Gebet ist die Quantentheorie unter den Glaubensfragen. Beten ist vor allem Dein Seelenstärker. Dein Angstvertreiber. Dein Herzenssteineschupser. Deine Wallbox zum Aufladen. „Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16) sagt Jesus dazu. Beten hilft beim Weltüberwinden und Angstabgeben.
Du betrittst dabei einen Raum der anderen Sprachfähigkeit. Ich für mich würde sagen, mein eigenes Beten ist oft eher wie ein Flüstern in meinem Herzen. An verschiedenen Momenten des Tages. Höre ich es. Fühle ich es. Das sind meine Gebete jeden Tag. Manche sind eher die Morgenslautbeterinnen oder die Abendsdankbardiehändefalterinnen. Es kann lange Gebete geben und nur die 1 MinutenMomente wie bei Johannes. Und wenn die Welt und die Sache mit Vater und Sohn Gottes und der Liebe und der Glaube selber manchmal sehr kompliziert sind - das Beten ist es nicht. Es ist einfach. Es gibt keine Vorschriften. Du kannst es jede Sekunde Deines Lebens sichtbar oder unsichtbar tun. Es gibt keinen Druck, keinen Zwang zum Beten. Es ist frei für Dich. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß und stärke unsre Liebe.