Donnerstag, 14. Dezember 2017

Am Telefon redete sie lebhaft und viel. In der kleine Gemeinde sagt man mir seit ich vor einem Jahr dort begonnen hatte, immer wieder, ich müsse sie unbedingt kennen lernen. Frau Berg wäre das Herz der Gemeinde gewesen. Sie hätte am Nachmittag die Kinder zusammen geholt und Bibelgeschichten erzählt, sie hätte die Einsamen zu Hause besucht, die Blumen für den Altar gepflückt, den Pfarrer erinnert, wenn er etwas vergaß. Manchmal lief sie lange Wege von einem Dorf zum anderen. Auto fahren konnte sie nicht. Nun musste sie ihr Dorf verlassen. Vier Jahre schon wäre sie im Pflegeheim, zu krank, um alleine zu leben. Fast gestorben wäre sie zwischendurch. Und endlich schaffe ich es mal, Frau Berg zu besuchen. Ich stelle mir eine reizende dynamische, vermutlich auch etwas anstrengende, ältere Dame mit kleinem weißen Dutt und sprühenden Augen vor. Es dauert, bis ich sie im großen Haus gefunden habe. Als ich sie sehe, bin ich sehr überrascht. In einer Sitzecke erzählt sie mir ein wenig von sich, aber dann ist Kaffeezeit und ich soll sie und ihre Rosalinde, mit der sie zusammen im Zimmer lebt, begleiten. Auch Frau Heilmann soll ich unterwegs in ihrem Zimmer abholen. So begleite ich die drei alten Damen, die schlurfend mit kleinen Tippelschritten voran kommen, an den Kaffeetisch. Neben mir sitzt Frau Heilmann. Sie ist winzig und im ganzen Gesicht grün und blau. Lange starrt sie auf die Tasse und den Kuchen. Schließlich kippt sie unerwartet mit viel Schwung den ganzen Kaffee auf den Kuchenteller. Das Pflaumenkuchenstück schwimmt in einem braunen See. Wieder sitzt sie ohne Reaktionen da. Niemand sagt etwas. Sie scheint das wohl immer so zu machen. Schräg gegenüber von mir sitzt Rosalinde. Sie sitzt ohne Appetit vor dem Teller. Immerzu seufzt und seufzt sie. „Tränen. Tränen. Tränen. … Ärger. Ärger. Wohinwohinwohin.“ Immer wieder fällt sie in einen kleinen Singsang mit traurigen Worten. Frau Berg schüttelt die wilden kurzen grauen Haare. „Meine Rosalinde!“, sagt sie voller Inbrunst. „Das ist so eine tolle Zimmernachbarin! Sie ist nur manchmal ein wenig traurig. Und Frau Heilmann! - Hallo, meine Liebe! Hören Sie mich? - So eine freundliche Person!“ Frau Berg sitzt krumm und schief gebeugt am Tisch. Ihr Beine sind verformt und auch ihr Rücken. Ihr ganzes Gesicht ist schief, die eine Gesichtshälfte viel größer als die anderen. Wenn sie spricht, verzerrt sich das ganze Gesicht etwas krampfhaft. Ihr Augen sind fast nicht zu sehen - hinter einer unfassbar dicken Brille kneift sie sie stark zusammen, um sehen zu können. Wenn sie spricht ist sie gefühlt nur Millimeter von meinem Gesicht entfernt, um mich sehen zu können. Jetzt, wo sie ihren Kuchen isst, beugt sie sich tief über den Teller. Frau Heilmann fährt mit dem Finger durch die Kaffeepampe. Rosalinde atmet tief durch und verschlingt in Nullkommanix das Kuchenstück. Ich hole mir einen Becker aus dem Schrank. Er riecht nach Desinfektionsmittel. Als ich Wasser eingegossen habe und den ersten Schluck trinke, weiß ich, dass er auch danach schmeckt. Etwas hilflos sitze ich da. In der linken Hand das desinfizierte Getränk. Die Hand von Frau Heilmann, die eben noch in der Kaffeepampe war, greift nach meiner anderen Hand. Rosalinde seufzt und seufzt. Sie singt vor sich her. Frau Berg ist entzückt von diesem wundervollen Lebensort hier. Ich schließe die Augen und atme tief aus. Wo liegt das Geheimnis. Was sieht Frau Berg, das ich nicht sehe? Ich schaue Rosalinde an. Jetzt sehe ich es. Immer wenn ich sie sehe, dann hört sie auf mit ihrer Litanei und lächelt. Lächelt wundervoll. Ein schneeweißes liebevolles Lächen. Ich mustere die grünblaue Frau Heilmann, deren klebrige Finger in meiner Hand liegen, sie schaut mich fortwährend an. Und da ganz hinten, neben dem Limettengrün ihres rechten Jochbeins und dem Dunkelorchideenlila auf der Stirn schaue ich in tiefes Hellblau ihrer Augen. Ein leichtes fliegendes Himmelblau. Und irgendwo da ganz hinten lächeln ihre Augen. Von ferne höre ich Frau Bergs Stimme, die erzählt. Diese Stimme klingt beglückend, denke ich. Sie ist sanft und warm. Eine ganz besondere Stimme. Es muss fantastisch sein, eine Geschichte zu hören von einer Frau mit einer solchen Stimme oder angesprochen zu werden, als liebste Zimmernachbarin oder freundliche Tischgenossin. Und wieder schaue ich Frau Berg an. Überall so sehr versehrt, wie sie ist. „Ich danke Gott, dass ich wieder so schön geworden bin.“, sagt sie gerade. 






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